EMPFEHLUNG, REVIEW

Chris :: Mein absurdes 2016

Ein altes Jahr, ein neuer Rückblick. Irgendwie deprimiert es mich, schon wieder ein Jahr verloren zu haben, aber es hatte musikalisch doch andererseits einiges zu bieten.

Wo soll ich anfangen, meine Gedanken zu ordnen und in lesbare Form zu bringen? Will ich euch meine liebsten Alben wiederkäuen? Sicher. Mal ’n Schwank erzählen? Logisch. Hoffnungen für die Zukunft mit euch teilen? Selbstverständlich.

Den meisten Spaß hatte ich dieses Jahr offensichtlich wieder mit den sogenannten semi-professionellen Bands.

Sobald du eine Band professionell betreibst, wird sie eine Firma, die Geld abwerfen muss, weil viele Menschen von dieser Firma abhängig sind. Dann spielst du auf jedem Festival, welches die Massen anzieht; ist euch aufgefallen, dass auf den großen Festivals immer die gleichen Bands spielen? Da steckt schon eine Idee oder besser eine Notwendigkeit hinter. Viele dieser Bands verlieren dann aber etwas, was für die Kunst unerlässlich ist: die Seele. Die Anfangstage, in denen man ausschließlich um des Ausdrucks seiner Selbst willen musizierte, rücken in weite Ferne und es wird zu einem Job. Nine to five. METALLICA bringen ein neues Album raus? OK. Würden sie danach exzessiv durch Deutschland touren, würde es noch mehr Sinn machen, aber es gibt wahrscheinlich zwei, drei Konzerte und dann sind sie wieder weg.

Kleiner Exkurs 1:
Mal ehrlich: wann hat ein Album der „großen Alten“ in den letzten 15 Jahren zu einem der Klassiker aufgeschlossen? METALLICA oder auch IRON MAIDEN (die beiden großen Alten dienen einfach als Beispiel… ergänzt oder ändert nach Belieben) wollen uns zeigen, wie kreativ sie sind und veröffentlichen zuletzt Doppelalben, von denen allerdings maximal die Hälfte brauchbar ist und die besten Songs auf den Alben wären in ihrer Blütephase maximal als B-Seite versteckt worden. METALLICA wollen ein Album zwischen „Kill ‚em all“ und dem „schwarzen Album“ aufnehmen? Allein der Gedanke, diese beiden Alben miteinander vermischen zu wollen, ist grotesk, denn musikalisch liegen Welten dazwischen, die sich nur schwerlich vereinen lassen wollen. Allerdings ist der Gedanke, die Oldschool-Fans mit den Mainstream-Fans gleichermaßen zu beglücken natürlich ein geschickter, geschäftlich gesehen. Vom Gefühl her müssen METALLICA oder IRON MAIDEN einfach zu viele Faktoren berücksichtigen und haben gar nicht mehr die Möglichkeit, die Musik zu schreiben, die aus ihnen heraus will… dann kommt nämlich sowas wie „Lulu“ dabei raus und jeder basht die Band und das wiederum birgt wirtschaftliche Risiken.

Dagegen verwirklichen viele der semi-professionellen Bands den uneingeschränkten Anspruch auf Authentizität und Freiheit. Die Notwendigkeit, von der Kunst zu leben ergibt sich nicht, da es oftmals ein zeitintensives Hobby ist, dem man frönt. Vielleicht darf auch das Amboss-Mag als Vergleich herhalten: wir verdienen nichts mit unserer Schreiberei, dürfen und werden aber genau aus diesem Grund immer das schreiben, was uns durch das Hirn geistert. Ihr könnt uns mit Liebesentzug strafen, aber ’ne Eichsfelder Stracke wir uns immer noch auf’s Butterbrot legen. Wäre ich als Schreiber allerdings finanziell abhängig, sieht die Welt schon anders aus. Würde ich dann sagen, dass SABBERTON Kasper-Schlagermusik für Fliesenleger machen, von der ich kotzen muss und Tarja eine der schrecklichsten „Sängerinnen“ (hargh hargh hargh…) aller Zeiten ist, müsste ich mir um meine Kunden Gedanken machen.

Kleiner Exkurs 2:
Für den Philosophen Albert Camus besteht „das Absurde im Erkennen der Tatsache, dass das menschliche Streben nach Sinn in einer sinnleeren Welt notwendigerweise vergeblich, aber nicht ohne Hoffnung bleiben muss“; dieses Gefühl des Menschen, in der Welt und im Leben fremd zu sein, ist die Absurdität, die viele von uns fühlen, aber vielleicht nicht artikulieren konnten; so ging es mir bisher jedenfalls. Mal ganz salopp formuliert: du verstehst die Welt nicht mehr, alle machen, was sie wollen und das ist kacke; du selbst passt nicht in die herrschenden Konventionen? Willkommen im Camus-Club.

Er schreibt in seinem Buch „Der Mythos des Sisyphos“, dass er von einem absurden Kunstwerk „Auflehnung, Freiheit und Mannigfaltigkeit“ verlange, damit sich „seine tiefe Nutzlosigkeit manifestere“. Ferner schreibt er: „die letzte Anstrengung für […] Künstler besteht darin, sich auch von ihren Unternehmungen befreit zu wissen: zu dem Eingeständnis zu gelangen, dass das […] Kunstwerk […] nicht sein MUSS, und so die tiefe Nutzlosigkeit allen individuellen Lebens zu vollenden. Gerade das gibt ihnen mehr Leichtigkeit bei der Verwirklichung dieses Werkes, wie die Erkenntnis der Absurdität des Lebens ihnen das Recht gab, sich mit allen Ausschweifungen hineinzustürzen.“ In Anbetracht der Absurdität des Lebens gibt es zwei Möglichkeiten, mit ihr umzugehen: Resignation oder Auflehnung.

Somit betrachte ich diese Untergrund-Bands als die wahren Existenzialisten, denn die Existenz der Musiker und Bands geht ihrer Essenz voraus; sie selbst bestimmen durch ihre Handlungen, was sie erschaffen und definieren sich nicht über geschäftliche Belange, sondern ausschließlich über ihre Kreativität und ihr Wesen, mit dem Wissen, dass die Kunst, die sie erschaffen nicht sein muss, sondern sein kann. Dieses Wissen, welches ich vielen Bands bewusst oder unbewusst unterstelle, sorgt dafür, dass wir regelmäßig von großartiger Kunst umgeben sind und jedes Jahr auf’s neue Ereignisse und Alben finden, die wir euch in unseren absurden, kleinen Jahresrückblicken präsentieren können.

Selbstverständlich erhebt der Text keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder Vollständigkeit, denn er ist lediglich ein Gedankengang, den ich ausführen wollte. Ausnahmen zu der Regel gibt es sicherlich viele. Die Triebfeder ist entscheidend, die die Bands dazu bringt, Zeit, Kreativität und Geld zu investieren und somit ist auch klar, dass „große“ Bands durchaus ehrliche, freie Kunst erschaffen können.

Die Alben, die ich rückblickend am stärksten erachte, weil sie mich über die letzten Monate permanent begleitet haben, kommen nun in der alphabetischen Reihenfolge, da der Thron stimmungsabhängig mal von der einen und dann wieder von der anderen Band besetzt wird. Ich hatte mir ursprünglich vorgenommen immer nur eine Band aus einem Genre zu nehmen, was mir eine schier unmenschliche Anstrengung abverlangt, denn Entscheidungen zu treffen, war noch nie meine Stärke und im Endeffekt hat es auch nicht geklappt, denn der Black Metal bzw. seine verschiedenen Spielarten waren in diesem Jahr sehr stark vertreten und es gibt einige Alben, die ich doch sehr mag.

Aber ihr kennt das Spiel: Objektivität ist eine Illusion. Das subjektive Empfinden beim Hören eines Albums entscheidet, ob es ein Geniestreich oder Rohrkrepierer ist. Deswegen werdet ihr auch nichts von der neuen METALLICA lesen, denn die älteren Herren haben bestenfalls ein durchschnittliches Album veröffentlicht. Egal, wie sehr es von anderen gehypt wird. Geiler waren da dieses Jahr:


AU CHAMP DES MORTS – „Le Jour Se Lève“
Wenn man die Schönheit hinter dem Schleier der Aggression entdeckt hat, ist man verliebt.


BLACK PESTILENCE – „Carry on the Black Flame“
Ein bisschen assig und voller Druck. So mag ich’s.


BOOZE CONTROL – „The Lizard Rider“
Immer noch ein Hammer… Heavy Metal deluxe.


CANTIQUE LÉPREUX – „Cendres Célestes“
Ein gutes Beispiel, wie Ekel und Schönheit Hand in Hand in den Untergang reiten können.


DAUTHA – „Den Förste“
Wie sehr ich mir das Debütalbum herbeisehne, könnt ihr euch kaum vorstellen.


DEAMON’S CHILD – „Scherben müssen sein“
Kreativ, frei, unverkrampft… Der Song „Nichts“ steht ganz oben in meiner Hitparade.


NICK CAVE & THE BAD SEEDS – „Skeleton Tree“
Man sagt, dass aus Schmerz Kunst entstehen kann. Manchmal entsteht durch einen unvorstellbaren Schmerz aber auch ein schonungslos offenes Album, weil man die Kraft, sich hinter Soundwänden zu verstecken, einfach nicht aufbringen kann. NICK CAVE klingt auf diesem Album nackt, verletzlich, mitunter konfus, aber vor allem ehrlich. Wenn man bedenkt, dass während der Aufnahmen sein Sohn gestorben ist, wird deutlich, warum das Album so dunkel klingt. NICK CAVE & THE BAD SEEDS waren noch nie eine Fähnchenschwingerband, aber er verstand es immer virtuos, seine Melancholie in atemberaubenden Liedern und Refrains zu verpacken. Auf „Skeleton Tree“ dagegen klingt er echt. Zwar nicht so perfekt, wie in seiner kommerziell erfolgreichsten Zeit, aber zeitweilig schlichtweg mehr als großartig. Die letzten drei Songs des Album „I need you“, „Distant sky“ und „Skeleton Tree“ sind so ziemlich das traurig-schönste, was ich in diesem Jahr hören durfte. Seine Geschichten sind einem Flehen und stoischem Wiederholen gewichen, das man kennt, wenn man jemals einen vergleichbaren Schmerz empfunden hat. Die acht Songs zusammen ergeben ein großartiges Album, auch wenn es besonders zu Beginn „typisch“ experimentell klingt. Empfehlung!


ORDER OF ISRAFEL, THE – „Red Robes“
Einfach nur gut.


SALLOW – „I: The Great Work“
Allein für den Song „Der Winter Kalt“ muss man die Band verehren.


SEHER – „Nachzehrer“
Die erste Band seit längerem, von der ich das Album in allen erdenklichen Versionen gekauft habe. „Nachzehrer“ ist so geil, das sich es mir immer wieder neu kaufe und entdecke.


URFAUST – „Empty Space Meditation“
Absoluter Meilenstein. Hätte ich ein Ranking, wär’s die Nummer 1.


WILDERNESSKING – „Mystical Future“
Das Album hat uns so beeindruckt, dass Kollege Hendrik auch noch was dazu sagen musste. Das sollte für das Album sprechen.

Hier habt ihr Balsam für eure Ohren: mein Mixtape 2016!



Das beste Konzert des Jahres für mich war BLACK SABBATH am 08.06.2016 auf der Berliner Waldbühne. Vielleicht, weil ich so lange darauf warten musste. Vielleicht, weil BLACK SABBATH die geilsten Songs aller Zeiten geschrieben haben. Vielleicht, weil es ein perfekter Tag war. Die Band war in toller Verfassung, die Songs waren unglaublich und die Tatsache, dort völlig „privat“ gewesen zu sein und sich im Moshpit (ja, glaubt es oder nicht, es gab immer wieder einen Pit) ordentlich durchkneten zu lassen, zu singen, bis die Stimme aufgab und klitschnass geschwitzt nach Hause zu kriechen… untermalt von der geilsten Musik der Welt, gespielt von den Geezer Butler, Tony Iommi, Ozzy und Neu-Drumlegende Tommy Clufetos. Das zu toppen, wird sehr schwer.

Und sonst so?
Vàn Records sind immer noch mein Lieblingslabel, denn die Veröffentlichungen waren fast durchweg brillant; das Acherontic Arts Festival war ein Knaller und durch die Vinylauflagen der NAGELFAR-Scheiben im Jahr 2017 (die Box war innerhalb eines Tages ausverkauft) beschreitet man den Weg zur Unsterblichkeit einfach immer weiter.

Mir sind allerdings noch zwei weitere, aufstrebende Labels ans Herz gewachsen:
zum einen Totenmusik. Ein kleines Label, welches Bands wie (DOLCH) oder SEHER hervorgebracht hat. Ein Label mit Geschmack und Weitsicht. Ich weiß nicht viel über das Label, aber die Bands im Repertoire sprechen für sich: MORAST, CONCATENATUS, und eben (DOLCH) und SEHER. Da wächst etwas ganz Starkes heran.

Und dann haben wir noch das Leipziger Label Sick Man Getting Sick Records. WILDERNESSKING und SALLOW haben sich klammheimlich in meine Jahrescharts gekämpft, aber mit Bands wie HEMELBESTORMER oder RASPAIL haben sie noch weitere heiße Eisen im Feuer, die ich euch ans Herz legen möchte. Auch hier spürt man, dass Wert auf Qualität statt Quantität gelegt wird und ich werde dieses Label weiterhin im Auge behalten.


Der Titel für das meistgehörte Lied geht in diesem Jahr an… „We’ll burn the sky“ von den SCORPIONS. Egal, ob als Studioversion oder vom „Tokyo Tapes“-Album, dieser Song hat mir manche Radfahrt versüßt und wann immer ich in einem Hotel abgestiegen bin oder auf der Arbeit geduscht habe… dieser Song war immer dabei. Aber eigentlich steht er stellvertretend für das Wiederentdecken der 70er Jahre-Uli Jon Roth-SCORPIONS-Ära. Eine Ära, in der die SCORPIONS so unverschämt genial waren, dass ich mich nicht mehr schäme, mich als SCORPIONS-Fan zu outen. Auch wenn die meisten meiner Arbetskollegen nun denken, dass ich den ganzen Tag „Wind of Change“ pfeife… aber ihr kennt das Spiel des Lebens… manche Bands verändern sich, du selbst veränderst dich und irgendwann muss man sich trennen, wobei die guten, alten Zeiten immer gefeiert werden. So geht es mir mit den SCORPIONS bis Ende der 80er, wobei die 70er Jahre brillant und die 80er Jahre ziemlich gut waren. Danach haben wir uns eigentlich nichts mehr zu sagen und (vielleicht ungerechtfertigter Weise) ignoriere ich die 90er, 00er und 2010er Jahre einfach. Ein Denkmal für die ersten 18 Jahre haben sie sich dennoch verdient.

Ich bedanke  mich bei allen, die mal einen Bericht gelesen oder sogar geteilt haben;
bei allen Bands, die unermüdlich schöpferisch tätig waren und mich auf irgendeine Art und Weise berührt haben;
bei den feinen Labels, die sich trauen, in diesen Zeiten echte Tonträger zu veröffentlichen;
bei allen echten Freunden, die ich über das Amboss-Mag kennengelernt habe (oder natürlich schon vorher kannte) und die mich durch 2016 begleitet haben.

In diesem Sinne:
Up the irons, metal up your ass, only death is real.

(chris)