EMPFEHLUNG, REVIEW

BUCH „Böse Macht Musik“

BUCH

„Böse Macht Musik“
Katharina Wisotzki/Sara R. Falke (Hg.)

Wertung: Empfehlung!

VÖ:10.10. 2012

Verlag: Transcript Verlag

Webseite: www.transcript-verlag.de/ts1358/ts1358.php

226 Seiten, Maße: 22,6 x 13,6 x 1,8 cm, kart.
ISBN: 978-3-8376-1358-2
27,80 Euro.

Das vorliegende Buch präsentiert 14 Aufsätze (6 davon in englischer Sprache), die sich mit der Frage beschäftigen, wie die Kategorie des “Bösen“ im Zusammenhang mit Musik zu begreifen ist. In den Beiträgen wird immer wieder deutlich, dass Musik bezüglich ihres klanglichen Ausdrucks selbstverständlich nicht mit dem moralischen Begriff “böse“ beschrieben werden kann. Ihr “böses“ Wesen erhält Musik erst dadurch, dass der Mensch sie im Kontext moralisch verwerflicher Praktiken instrumentalisiert. Wobei die herrschenden Machtstrukturen der Gesellschaft den Spielraum vorgeben, in dem sich diese Instrumentalisierung vollziehen kann.

Beispielsweise beschreibt Sara Falke in ihrem Beitrag “Schritt für Schritt der Hölle entgegen – mittelalterliche Tänze im Fokus der kirchlichen Kritik“ anschaulich, wie sich das Christentum der Musik bediente, um sich beim Kampf um die Macht zu behaupten. Der sogenannte Reigen war ein beliebter Tanz des Mittelalters, der aus heidnischer Zeit stammte. Da sich die Kirche gegen das Heidentum positionierte, wurde von ihr dieser Tanz und die dazugehörige Musik abgelehnt. Der Reigen wurde von der Kirche aufgrund seiner “Lustbarkeit“ propagandistisch bekämpft, er galt als eine Wirkstätte des Teufels. Wenn das Volk besonders eifrig tanzte, wurde dies mitunter auch als “Tanzepidemie“ oder “Tanzwut“ bezeichnet. Erst im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert gab das Christentum seinen Widerstand gegen den Reigen auf. Obgleich der Aufsatz keine Brücke in die Gegenwart schlägt, dürfte er insbesondere für Mittelalter-Rock-Fans interessant sein. Nach der Lektüre kann man zum Beispiel besser nachvollziehen, was es damit auf sich hat, wenn sich eine Band TANZWUT nennt.

Im Aufsatz “Rock ‘n‘ Roll Werewolves – Literarische, mytho- und ikonographische Aspekte der Werwölfe in Popsongs“ beschreibt Uwe Schwagmeier die vielfältigen Bedeutungsmuster des Werwolf-Themas in der Rockmusik. So symbolisiert der Werwolf etwa die Verwandlung des zivilisierten Menschen in das instinktgetriebene Tier. Auch zur Beschreibung der physischen und psychischen Veränderungen, die sich beim männlichen Geschlecht im Verlauf der Pupertät vollziehen, wird die Metaphorik des Werwolfs verwendet. Außerdem bedient man sich dieser Figur, um ungestillte Liebe bzw. sexuelle Lust zu thematisieren. Zur Veranschaulichung der verschiedenartigen Bedeutungsformen des Werwolf-Symbols bezieht sich Schwagmeier unter anderem auf Songs folgender Künstler: SPOON, THE CRAMPS, OZZY OSBOURNE, STING, BLUMFELD. Zweifellos dient es der Repräsentativität, dass der Autor seine Beispiele aus unterschiedlichen Genres der Popmusik wählt. Trotzdem stellt er richtigerweise fest, dass im Bereich des Heavy Metal die Werwolf-Thematik besonders beliebt ist. Und in der Tat: Man denke nur an die eindrucksvollen Veröffentlichungen von MOONSPELL oder THE VISION BLEAK zu diesem Thema.

Sean Nye untersucht in seinem Aufsatz “What is Teutonic?“ – An Update on the German Question” die musikalischen Vorlieben von Eric Harris und Dylan Klebold. Die beiden Schüler haben es wegen ihres Amoklaufs an der Columbine High School zu trauriger Berühmtheit gebracht. Harris und Klebold hörten Musik von RAMMSTEIN und KMFDM. Die treibende Kraft des destruktiven Duos war Harris. Harris interessierte sich nicht nur für deutsche Bands, er beschäftigte sich auch mit der Geschichte Deutschlands, insbesondere mit der Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Verständnis des Autors bezeichnet der Begriff “Teutonisch“ die Schattenseiten der deutschen Kultur, wie sie durch den Imperialismus und Militarismus des NS-Staats und des Deutschen Kaiserreichs repräsentiert werden. Nye stellt die Frage, warum das Interesse am Nationalsozialismus bzw. am “Teutonischen“ in der US-Gesellschaft so stark ausgeprägt ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die Abgründe der deutschen Geschichte eine perfekte Projektionsfläche bilden, um gesellschaftliche Missstände und persönliche Ängste zu thematisieren bzw. zu verarbeiten. Allerdings haben sich die beiden Schüler nicht darauf beschränkt, sich mit dem Faschismus zu beschäftigen. Tatsächlich deckt sich ihr Verhalten beim Amoklauf – totale Machtentfaltung bei gleichzeitiger Zerstörung sämtlicher moralischer Standards – mit der Herrschaftspraktik des Nationalsozialismus.

Auch der Beitrag “‘like the wind drives dead leaves‘ – Music in Concentration Camps“ von Slawomir Wieczorek beschäftigt sich mit dem Nationalsozialismus. Wieczorek beschreibt, wie die Nazis Musik instrumentalisierten, um die Vernichtung in den Konzentrationslagern besonders effektiv zu gestalten. Die Wirkungsweise von Musik in den Vernichtungslagern macht der Autor insbesondere dadurch verständlich, indem er den Zeitzeugen Primo Levi zu Wort kommen lässt. Levi wurde nach Auschwitz deportiert, dennoch überlebte er den Holocaust. Zur Wirkung der Musik am Ort des Grauens schrieb er: “When (…) music plays, / we know that our comrades, / out in the fog, / are marching like automatons; / their souls are dead / and the music drives them, / like the wind drives dead leaves, and takes the place of their wills.“

Im Aufsatz “Imagines ‘böser’ Musik“ setzt sich Beate Kutschke mit der Verwendung von Richard Wagners “Ritt der Walküren“ im Kontext von fiktiven und tatsächlichen Kriegen auseinander. Kutschke bezieht sich dabei auf den Film “Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola. In dem Film verwenden die US-Soldaten bei einem Helikopter-Angriff die besagte Musik als akustische Begleitung. Die Autorin stellt folgende Frage: “Ist der Ritt der Walküren eine essentiell böse, gewalttätige Musik, die es nahe legt, anlässlich militärischer Invasionen gespielt zu werden?“ Obgleich Kutschke diese Musik letztlich nicht als “böse“ begreift, stellt sie fest, dass die markante zweigliedrige Soundstruktur geeignet erscheint, den Gegensatz zwischen Krieg und Frieden zu versinnbildlichen. In der Tat agiert Wagner in dem Stück mit zweierlei: mit verträumt-sanften und wuchtig-dynamischen Klängen. Kutschke weist auch darauf hin, dass der “Ritt der Walküren“ beim Irakkrieg des Jahres 2003 als Mittel der psychologischen Kriegsführung eingesetzt wurde. Im Zusammenhang mit dem Angriff auf Bagdad beschallten US-Truppen die Stadt nachts mit dieser Musik. Gegen Ende des Aufsatzes stellt die Autorin fest, dass Popmusik – insbesondere Hard Rock, Heavy Metal und Rap – von der US-Armee als Folterinstrument bei Verhören eingesetzt wird. Die Menschenrechtsorganisation Reprieve kritisiert zu Recht den Missbrauch von Musik als Waffe und Folterinstrument.

Das Buch behandelt noch viele andere interessante Aspekte. Beispielsweise erörtert Christoph Greger die Macht von Fangesängen beim Fußball. Matthew Steinbron thematisiert das schlechte Image von Heavy Metal in der US-Gesellschaft. Und Kirsten Dyck beschreibt, wie die mittelalterliche Welt der Wikinger im Genre des Viking Metal mitunter von kritikwürdigen Akteuren und ihren Ideologien instrumentalisiert wird. Alle Aufsätze des Buchs sind lesenswert. Stets werden die Themen mit der nötigen Umsicht bearbeitet. Außerdem achten die Autoren genau auf die Einhaltung wissenschaftlicher Standards. Demgemäß bieten alle Beiträge einen Fußnotenapparat und eine Bibliographie. So kann der Leser gegebenenfalls noch tiefer in die Thematik einsteigen. Fazit: Man kann dieses erkenntnisfördernde Buch zum Thema “böse“ Musik mit gutem Gewissen empfehlen. (stefan)

Infos des Transcript Verlags zum Buch:
www.transcript-verlag.de/ts1358/ts1358.php