REVIEW

JOACHIM WITT „Neumond“ (Dark Melancholic Pop)

JOACHIM WITT

„Neumond“
(Dark Melancholic Pop)

Wertung: Empfehlung!

VÖ: 25.04.2014

Label: Oblivion / SPV

Webseite: www.facebook.com/joachimwittmusik

Der Herbergsvater der Extravaganz schlägt zum 14ten Mal zu. In den über 30 Jahren sind vor allem der NDW Hit „Goldener Reiter“ und das 1998 veröffentlichte „Die Flut“ zusammen mit Peter Heppner in Erinnerung geblieben. Natürlich hatte und hat Witt weit mehr zu bieten, erinnert sei an die Werkreihe Bayreuth mit dem gesellschaftskritischen Album „Bayreuth3“ zum Abschluß, oder dem durchdringenden, hochmelodischen „Pop“ Album. Das aktuelle Album schließt sich, den in sich stimmigen Vorgängeralben an, geht aber auch wieder neue Wege, die nicht zuletzt in Zusammenhang stehen mit Martin Engler (Mono Inc.). Angesichts dieser gelungenen VÖ kann man davon ausgehen, dass Witt eine Rente mit 65 (Glückwunsch nachträglich) zumindest für sich ausschließt.

Waren die letzten Alben eher der NDH (den Vorgänger „Dom“ mal ausgenommen) zuzuordnen, liefert die Kollaboration Witt/Engler heuer ein sphärisch-elektronischen Kleinod, mit dezenter Melodramatik, weichen Melodielinien und verspielten Klanggebilde. Wie so oft, gibt es auch auf „Neumond“ wieder autobiografische Gebilde, diesmal deutlich zu finden im, dezent avantgardistischen, Titelsong, während es in anderen Stücken eher versteckt und unterschwellig in die Texte einfließt. So singt das Attac Mitglied im klimapolitischen „Die Erde brennt“ -„nein, ich verliere meine Träume nicht“. „Bis ans Ende der Zeit“ ist ein, in warmer Melancholie gebettetes, ruhig gestaltetes Gemälde, dessen tiefgehender Text sich mit menschlicher Empathie auseinandersetzt. Es fällt auf, dass „Neumond“ geprägt ist von einer betörenden Unaufdringlichkeit, weder Pathos noch Kitsch ist erkennbar. Auch die provokative Seite (man erinnere sich an das Video zu „Gloria“) ist eher einer sehr persönlichen Sicht der Dinge gewichen. Die Synths unterlegen die zartmütigen Linien mit tagträumerischer Eleganz. Auch wenn es, wie im stampfenden „es regnet in mir“ mal sehr tanzbar und clubtauglich zugeht. Darin inkludiert ein paar überraschende Loops und treibende Sequenzer. Ganz anders geartet kommt „Strandgut“ daher. In bester Deutschpop Manier mimt Witt einen Erzähler. Angesichts der erhabenen Klangstruktur der Stimmbänder zwingt Witt die Hörer quasi zum Zuhören. Wer sich diesem Zwang unterwirft wird dann aber auch belohnt, und es ist am Ende nicht nur der eingängige Refrain, der sich im Kopf festklebt.

Die erste Singleauskopplung „Mein Herz“ behandelt die Geschichte eines Paares, bei dem ein Partner durch einen Unglücksfall eine körperliche Behinderung erleidet. Ist ihre Liebe stark genug, um damit fertig zu werden – oder zerbricht sie an den widrigen Umständen? Auch musikalisch erzeugt der Song eine emotionale Stimmung.

Neben Martin Engler („Aufstehen“) holt sich Witt mit Katha Mia auch eine weibliche Gesangsstimme an seine Seite („Ohne Dich“, „zu Spät“) und dafür, dass man sich im gesetzten Alter noch Wünsche erfüllen kann, steht das Duett mit Lisa Gerrard (Dead can Dance), welches allerdings nur auf der Bonus CD zur limitierten Version zu hören ist.

„Ohne Dich“ ist ein von verspielter Elektronik getragener Song. Die Keys geben sich sehr harmonisch, während die untergründige Rhythmik mit fast verschwiegener Dramatik den Song ausbalanciert. Der Gesang passt sich dem gestiegenen Tempo an und wirkt leicht gehetzt, um sich im Refrain von betörender Eleganz treiben zu lassen. Im Gesamtkontext wirkt das Gefüge fast schon lieblich. Konträr dazu wartet der Titelsong mit schrägen Soundvaganzen auf, um hernach im romantisch eruptiven „Zu Spät“ wieder einen neuen Klangkosmos zu öffnen. Flächige Synths treffen auf minimalistische Kreationen, welche den Song wie eine führende Hand begleiten. „Dein Lied“ besitzt auch mal knarzige Sounds und erklingt in den Strophen sehr schräg, während der Chorus wieder von dichter Atmosphäre geprägt ist und sich verträumt durch den Gipfel der Erzählung schlängelt. Auch das wunderschöne „Frühlingskind“ ist kein Song zum Nebenbeihören, auch wenn es funktioniert. Die Texte sind einfach zu tief und in ihrer Aussage zu nachdenklich, als dass man das Album fröhlich frohlockend und tanzend konsumieren kann. Der ruhige instrumentale Ausklang könnte dann noch mal das Kopfkino bedienen und ganz nebenbei erklingt es wie die Verschmelzung von Vangelis und Wagner.

Fazit: Joachim Witt gelingt es zum wiederholten Mal, den Hörer und seine Fans zu überraschen. Egal ob bei ruhigeren Stücken wie „Strandgut“, dem melancholischen „bis ans Ende der Zeit“ oder bei treibenden Energien („Die Erde brennt“, es regnet in mir“), über dem satten Bass und den teils sphärischen Soundstrukturen liegt immer Witts markant tiefe Kehlkopfstimme. Textlich gibt sich Witt fast schon Altersweise und erzählt Geschichten, die sich um den sozialen Aspekt der Menschlichkeit drehen. Er agiert dabei gewohnt kritisch, ohne diesmal jedoch all zu polemisch zu schwadronieren. Die hymnenhafte Elektronik und die perfekte Inszenierung inklusiver kristallklarer Sounds, die sich auch mal liebreizend betten, liefert den perfekten Laufsteg für Witts Erzählungen. (andreas)