ROME
„Civitas Solis“
(Melancholic Folk)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 25.04.2025
Label: Trisol Music Group
Webseite: Facebook
Seit 20 Jahren kreiert Jerome Reuter mit seinem Projekt ROME famose Klangkunst. Reuter hat dabei immer wieder die Schattenseiten der Spezies Mensch thematisiert. Zuletzt hat er dies besonders schonungslos getan: In Reuters letztem Werk „World In Flames“ (Review hier lesen) wird der Krieg als eine Konstante der Menschheitsgeschichte betrachtet. Und zuvor hat sich Reuter mit den Alben „Live In Kyiv“ (Review hier lesen) und „Gates Of Europe“ (Review hier lesen) mit dem von Russland begonnenen Krieg in der Ukraine beschäftigt.
Wegen des Kriegsthemas waren die letzten Alben von einer besonders finsteren Atmosphäre geprägt. Hingegen verbreitet das neue Album „Civitas Solis“ zumeist eine relativ licht wirkende Stimmung. Das ist konsequent, denn „Civitas Solis“ heißt auf Deutsch „Der Sonnenstaat“. Der Titel des neuen Werks bezieht sich auf einen utopischen Text von Tommaso Campanella (1568-1639). Campanella war Philosoph und Theologe, die Utopie „Civitas Solis“ verfasste er im Jahr 1602.
Im „Sonnenstaat“ leben die Menschen friedlich zusammen. Sie sind glücklich, niemand leidet Not. Die Gesellschaft ist kollektivistisch konzipiert. Es gibt kein Privateigentum. Eine kleine Gruppe besonders gebildeter Geistlicher bestimmt souverän über die Politik des Sonnenstaats. Bei diesem Staat handelt es sich also um eine Theokratie. Interessant ist auch die Biographie Campanellas, sie liest sich mitunter wie ein Abenteuerroman.
Das utopische Denken lebt von der Sehnsucht nach einer besseren Welt. Diese Sehnsucht erzeugt eine besondere Stimmung. Und genau diese Stimmung ist es, die das neue Album vor allem prägt. Die beiden wichtigsten Elemente dieser sehnsuchtsvollen Stimmung sind Melancholie und Hoffnung. Melancholie, weil die Gegenwart düster ist. Und Hoffnung, weil im utopischen Denken eine bessere Welt möglich erscheint.
Aus nachvollziehbaren Gründen weist ROMEs neues Album nicht nur auf die potentiell positive Zukunft der Spezies Mensch hin. Denn der Kampf für eine bessere Welt beinhaltet tragischerweise auch Gewalt und Krieg. Es wäre naiv, anzunehmen, dass die Tyrannen dieser Welt nur durch die Kraft der Friedfertigkeit bezwungen werden können. Diese Erkenntnis prägt auch die Stimmung dieses relativ optimistisch wirkenden Albums.
Das neue Werk bietet vor allem Folksongs. Diesen Songs wohnt eine sanfte Melancholie inne. Sanft ist diese Melancholie, weil in ihr auch Hoffnung mitschwingt. Das mutmachende Element des utopischen Denkens wird hier deutlich. Das Album beinhaltet nur wenige Lieder, die vollständig düster wirken. Diese können dem Dark Industrial Genre zugeordnet werden. Abgesehen von wenigen Worten wird bei diesem Album nur die englische Sprache verwendet. Sprachsamples spielen fast keine Rolle.
Gestartet wird mit dem Folksong „La France Nouvelle“. Das Lied verbreitet eine angenehme und warmherzige Atmosphäre. Die wunderschöne Singstimme Reuters klingt sehr einfühlsam und feierlich. Durch seinen Gesang entsteht eine besonders sehnsuchts- und hoffnungsvolle Stimmung. Obwohl das Gitarrenspiel durchaus dynamisch ist, bewegt sich der Song stets im Mid-Tempo-Bereich.
Mindestens so überzeugend wie der Opener ist auch das nächste Lied: Der treibende Folksong „In Brightest Black“ geht sofort ins Ohr. Reuters beschwörender Gesang klingt während des gesamten Lieds sehr pathetisch. Besonders beim Refrain wird durch seine eindringliche Stimme eine rituelle Aura erzeugt. „In Brightest Black“ ist sicher einer der stärksten Songs des Albums!
Beim folgenden Lied wird das Tempo deutlich gedrosselt: „Tomorrow We Live“ ist eine sehr gefühlsbetonte Folkballade. Filigranes Gitarrenspiel, hingebungsvoller Gesang – im Gesamtwerk von ROME sind dies zwei ständig wiederkehrende Elemente. Beide Elemente werden bei „Tomorrow We Live“ einmal mehr auf perfekte Weise zusammengefügt.
Anschließend wird man mit dem rauen Dark Industrial Track „Food For Powder“ konfrontiert. Disharmonische Elektroklänge, wuchtiges Getrommel und Reuters kraftvoller, wütender Gesang – das sind die wichtigsten Bestandteile dieses packenden Klangerlebnisses. Danach geht es mit dem eindringlichen Folksong „Ad Vindicta“ wieder gemächlicher zur Sache.
Das folgende, dunkel wabernde „By Tradition“ bewegt sich höchst kreativ zwischen den Genres Elektro, Industrial und Ritual. Die druckvoll wogenden Keyboardteppiche wirken sehr faszinierend. Eine mächtige Sogwirkung übt auch der ritualhafte Refrain aus: Hier erlangt Reuters unnachgiebiger, mantraartiger Sprechgesang stets durch die markanten Worte „Es muss sein!“ seine Vollendung. Zweifellos gehört „By Tradition“ zu den Höhepunkten des Albums!
Dann folgt die atmosphärische Klangcollage „Dannazione“. Auch durch eine beschwörend klingende Erzählstimme wird eine sehr dramatische Stimmung erzeugt. Obgleich der Ambient Track nur eine Minute und 12 Sekunden dauert, ist die magische Wirkung immens. Im Anschluss sorgt der Dark Industrial Track „Bring Me The Head Of Romanez“ mit seinen wilden Trommelschlägen und seinem pulsierenden Bassspiel für Unruhe. Jedoch klingt Reuters Sprechgesang hypnotisch, sogar wenn er beim Refrain die martialischen Worte des Songtitels spricht.
Der Folksong „The Western Wall“ bietet einen reizvollen Wechsel zwischen aufwühlenden und besinnlichen Stimmungsbildern. Hingegen überzeugt das ebenfalls im Folkgenre beheimatete „White Flags“ durchgängig mit einer impulsiven Atmosphäre. Etwas weniger druckvoll wirkt der Folksong „Jupiter“. Hier wird durch ein besonders harmonisches Zusammenspiel von Gitarren- und Elektroklängen eine zauberhafte Aura erzeugt.
Dann folgt das schönste Lied des Albums: „Mar’yana“. Der Folksong wirkt auch deshalb so bezaubernd, weil beim Start wundervoll perlende Klavierklänge verwendet werden. „Mar’yana“ fasziniert auch wegen der unwiderstehlichen Melodie, der Song ist ein echter Ohrwurm! Das Tempo ist stets treibend. Reuter singt bei den Strophen und beim Refrain äußerst leidenschaftlich. Das Lied klingt sehr sehnsuchtsvoll und romantisch. Ein wirklich herrliches Klangerlebnis!
Anschließend begeistert die grandiose Folkballade „Men Against Time“. Anfangs singt Reuter sehr kraftvoll, sein Gitarrenspiel ist drängend. Er erzeugt eine sehr bewegende Atmosphäre. Ab der Mitte des Songs singt Reuter sanfter, er schlägt die Saiten bedächtiger an. Es entsteht eine Aura, deren Dramatik nachlässt. Die Stimmung des Songs bleibt bis zum Ende wunderschön!
„Civitas Solis“ endet mit dem Instrumental „Herculaneum“. Die Klangcollage startet mit orchestralen Tönen, die wie Marschmusik klingen. Am Ende hört man vor allem sphärische Klänge. Sie wirken nicht düster, sondern feierlich und monumental. Die letzten Töne des Albums klingen harmonisch.
Fazit: Zum 20jährigen Jubiläum von ROME überrascht Jerome Reuter mit einem relativ optimistisch klingenden Album. „Civitas Solis“ wirkt wie ein Durchatmen nach einer besonders schweren Zeit. So zuversichtlich und herzerwärmend klang ROME bisher nur selten. Das Album besteht vor allem aus Folksongs, denen eine betörende und sanfte Melancholie innewohnt. Auch das neue Werk behandelt die politischen Themen, die für ROME seit jeher charakteristisch sind: Gerechtigkeit, Gewalt, Krieg und Frieden. Zudem ist es für ROME typisch, besonders zwei philosophischen Fragen Beachtung zu schenken: Wofür lohnt es sich zu leben? Und: Wofür lohnt es sich zu sterben? Diese Fragen werden dieses Mal auf einer eher abstrakten Ebene betrachtet. Deswegen wirkt „Civitas Solis“ nicht so bedrohlich wie die letzten Alben, bei denen sich Reuter mit dem Ukrainekrieg beschäftigt hat. Festzuhalten bleibt: Mit „Civitas Solis“ hat Jerome Reuter erneut ein Meisterwerk geschaffen! Gratulation zum 20jährigen Jubiläum! Und alles Gute für die nächsten 20 Jahre! (stefan)
Der Song „Mar’yana“ bei YouTube: