ROME
„World In Flames“
(Dark Industrial / Melancholic Folk)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 02.08.2024
Label: Trisol Music Group
Webseite: Facebook
Letztes Jahr hat ROME das grandiose Album „Gates Of Europe“ veröffentlicht (Review hier lesen). In dem Album beschäftigt sich Jerome Reuter, der maßgeblich für ROME verantwortlich ist, ausschließlich mit dem Krieg in der Ukraine. Im neuen Werk „World In Flames“ geht es teilweise auch um den von Russland verursachten Krieg, jedoch wird dieses Mal das Kriegsthema zumeist auf eine eher allgemeine Weise betrachtet.
Bei der neuen Veröffentlichung scheint die folgende Überlegung eine wichtige Rolle zu spielen: Einerseits weisen Kriege im Zeitalter der Moderne eine eigene Wesensart auf, andererseits haben alle Kriege auch einen überzeitlichen Wesenskern. Diese Betonung des Überzeitlichen entspricht dem Gesamtwerk von ROME. Denn dort werden Kriege häufig als eine Art anthropologische Konstante gedeutet. Jedoch findet bei ROME keine pauschale Gewaltverherrlichung statt: Wenn Gewalt ästhetisiert oder glorifiziert wird, dann beim Kampf gegen die Tyrannei. Und dieser Kampf ist notwendig, weil der höchste politische Wert die Freiheit des Individuums ist.
Dass beim neuen Werk von ROME das Überzeitliche betont wird, zeigt sich auch beim Blick auf das Cover. Dort ist der Titan Atlas aus der griechischen Mythologie abgebildet. Und wie in der antiken Sage trägt Atlas die Last der Erde auf seinen Schultern. Die Atlas-Abbildung auf dem Cover orientiert sich an einer römischen Kopie einer hellenistischen Skulptur. Die Kopie stammt aus dem 2. Jahrhundert nach Christus.
Das Aussehen des Titans auf dem Cover entspricht ziemlich genau der römischen Vorlage, jedoch wurde die Darstellung der Erde markant verändert. Anders als bei der Vorlage sieht man beim Blick auf die Erde mächtige Rauchschwaden. Das Artwork wirkt sehr dramatisch. Das liegt auch daran, dass auf dem Cover Soldaten in einer vom Krieg zerstörten Landschaft zu sehen sind. Kein Zweifel: Das Cover spiegelt sehr gelungen den Titel und den Inhalt von „World In Flames“ wider.
Das neue Werk hat eine Spielzeit von 22 Minuten. Deshalb bezeichnet das Label die Veröffentlichung als „Minialbum“. Das Album bietet eine Mischung aus Ambient, Industrial und Folk. Zumeist ist die Stimmung dunkel, doch es gibt auch Momente des Lichts.
Gestartet wird mit dem Dark Ambient-Stück „Vol De Nuit“. Der Track wirkt meditativ, eine Melodie ist nur ansatzweise erkennbar. Wie ein Streichinstrument klingen die Töne, sie gleiten langsam dahin. Am Ende des 59 Sekunden langen Stücks schält sich allmählich eine rhythmische Unruhe aus dem Geschehen heraus. Dann folgt ein schroffer Übergang zum Dark Industrial-Song „First We Take Berlin“: Plötzlich hört man ein raues Schlagzeug, es wummert und scheppert unnachgiebig. Reuters Stimme klingt angespannt und beschwörend. Im Hintergrund wabern dunkle Elektroklänge umher, eine Melodie ist nicht erkennbar. Beim Refrain spricht Reuter mehrfach die Worte des Songtitels. Dazu ertönt der Klang einer Geige: Zu hören ist eine kurzgefasste Melodie, die sehr eingängig ist. Sie wird ständig wiederholt.
Der Refrain erhält durch die kompakte Machart und die häufigen Wiederholungen einen hypnotischen und rituellen Charakter. Hierzu passt, dass sich im Verlauf des Lieds das Wesen des Refrains kaum verändert. Der Reiz des Songs liegt vor allem daran, dass Reuter nach jedem Refrain die Strophen mit zunehmender Leidenschaft intoniert. Am Ende des Tracks schiebt sich ein Sprachsample in den Vordergrund des Geschehens. Eine Männerstimme, die nicht Reuters Stimme ist, spricht voller Vehemenz die Worte: „Unser Ziel ist Berlin!“ Die Atmosphäre von „First We Take Berlin“ ist ausnahmslos unheilvoll. Obwohl der Song stets ein schleppendes Tempo hat, wirkt er sehr dramatisch.
Auch die Stimmung des folgenden Dark Industrial-Tracks „Submission“ ist vollkommen finster. Eine prägnante Melodie, deren Klangfarbe einer Geige entspricht, durchzieht den Song kontinuierlich. Die Melodie geistert bei den Strophen eher im Hintergrund umher, beim Refrain tritt sie dominanter in Erscheinung. Bei den Strophen singt Reuter leidenschaftlich. Beim Refrain agiert er eher gleichförmig, er spricht den Songtitel einige Male auf beschwörende Weise.
„Submission“ ist ein packendes Lied – und der Schlussteil wirkt besonders ergreifend. Dort ergänzt Reuter den gesprochenen Ein-Wort-Refrain, indem er mit seiner faszinierenden Singstimme die folgenden mahnenden Worte auf sehr eindringliche Weise vorträgt: „Who will give voice to silent nation? / Who will give voice to speechless land? / Who will give voice to silenced generation? / Who will give voice will give command?“.
Mit „Submission“ hat Reuter ein äußerst tragisch klingendes Denkmal für alle Menschen geschaffen, deren Freiheit von Tyrannen bedroht ist. Bei dem Song denkt man natürlich auch an den Freiheitskampf der Menschen in der Ukraine.
Der Bezug zur Ukraine ist im nächsten Lied sehr direkt. Denn zum Text von „Eagle Wings“ wurde Reuter von einem Gedicht der ukrainischen Dichterin Lesja Ukrainka (1871-1913) inspiriert. Der Folksong startet mit sanften Ambient-Klängen und einem Sample, bei dem die Worte eines ukrainischen Soldaten zu hören sind. Er zitiert das besagte Gedicht. Seine Worte sprach der Soldat bei einer Pressekonferenz. Sie fand statt, als er nach einem Gefangenenaustausch wieder seine Freiheit erlangte. Mit dem Gedichtzitat beschreibt der Soldat ein besonders starkes Freiheitsgefühl: Es fühlt sich an, als ob man Adlerflügel hinter den Schultern spüren würde. Die Worte des Soldaten sind ein sehr berührendes Intro für diesen wunderschönen Song.
Reuters Gesang wirkt bei „Eagle Wings“ besonders sehnsuchtsvoll und leidenschaftlich. Das Lied klingt schwungvoll, obwohl kein Schlagzeug verwendet wird. Der Bass wird nur dezent eingesetzt. Das kraftvolle Gitarrenspiel ist filigran und herrlich melodisch. Die Atmosphäre von „Eagle Wings“ ist nicht nur melancholisch, der Song vermittelt auch ein hoffnungsvolles Gefühl.
Das folgende Lied heißt „Todo Es Nada“. Auch dieser Folksong klingt sehr melodisch, aber er ist noch schwungvoller als „Eagle Wings“. Dass „Todo Es Nada“ sehr druckvoll wirkt, liegt auch daran, dass beim Refrain Schlagzeug zum Einsatz kommt. Angesichts des Songtitels überrascht es nicht, dass Reuter eine Art des Gitarrenspiels gewählt hat, das nach spanischer Folklore klingt. Reuters Gesang ist voller Hingabe. Obwohl bei „Todo Es Nada“ eine tragische Atmosphäre feststellbar ist, wird auch eine Stimmung gezaubert, die Mut macht. Und der Mut, der beschworen wird, ist der Mut zum Widerstand gegen den Vernichtungswillen der Tyrannen.
Nicht nur die Musik von „Todo Es Nada“ ist großartig, der Text ist es auch. Eine Kostprobe: „They came to see us all stumble / See us yielt and see us fold / They thought we would let it all crumble / They thought us weak and thought us cold / And when they strike / They strike to slay / And slay whatever is in their way / But with sword as with pen / We will still be tigers / Among men.“
Der Abschlusstrack ist das Titelstück des Albums: „World In Flames“ ist eine Klangcollage, die vor allem sphärische Tonwellen beinhaltet. Die Atmosphäre ist dunkel und kalt. Eine Melodie ist nicht erkennbar. Ab der zweiten Hälfte des Tracks wabert auch dezenter Chorgesang im Klangbild umher. Kurz vor dem Ende der Ambient-Reise wird der unheimlich wirkende Gesang vehementer. Zum Schluss werden alle Klänge langsam ausgeblendet.
Fazit: Jerome Reuters neues Werk „World In Flames“ zeigt auf, wie wichtig der Kampf gegen die Tyrannei ist. Denn die tyrannischen Vertreter der Spezies Mensch tragen die Verantwortung dafür, dass die Erde in vielerlei Hinsicht ein grauenvoller Ort ist. Reuters Zustandsbeschreibung der Welt ist düster – doch es gibt auch Hoffnung: Die guten Geister sind nicht machtlos! Auch wenn das Böse vermutlich niemals vollständig besiegt werden kann, mitunter kann es eingedämmt werden – und genau dafür lohnt es sich, zu kämpfen! Diese wichtige Botschaft vermittelt „World In Flames“ auf überwältigende musikalische Weise. Tatsächlich hat Reuter erneut ein Meisterwerk geschaffen! Zudem bleibt festzuhalten: Auch in seinem neuen Werk würdigt Reuter den Freiheitskampf der Ukraine. Gut so! In diesem Sinne: Slava Ukraini! (stefan)