REVIEW

JOACHIM WITT „Ich“ (Dysthymie Pop-rock)

wittJOACHIM WITT

„Ich“
(Dysthymie Pop-rock)

Wertung: Gut+

VÖ: 28.08.2015

Label: SPV

Webseite: Homepage / Facebook

Nach dem, doch recht eingängigen „Neumond“ geht WITT diesmal andere Wege. Herausgekommen ist ein schwermütiges Werk, voller getragener Melancholie. Die Texte sind sehr persönlich gehalten und besitzen die nachdenkliche Altersweisheit eines mittlerweile 66-jährigen Künstlers. Die Instrumentierung ist meist dezent und erinnert phasenweise an deutsche Liedermacher aus den 80ern, die ebenfalls die Jahrzehnte überlebten. Das Klanggebilde manifestiert sich als Melange aus experimentellen Tonagen, Gitarren und Elektronik, welches im Gesamtergebnis den perfekten Boden generiert, auf dem dann der typisch Witt’sche Gesangstil stolziert.

Schon der Opener „Über das Meer“ deutet die Richtung an, in der sich das Album nach vorne bewegt, es geht sehr ruhig zu. Der Song ist eine Art Gedankenreinigung, welche sich reflexiv mit der Vergangenheit beschäftigt, um dann nicht in Nihilismus zu verfallen, sondern Probleme zu erkennen und zu wissen, dass die Problemlosigkeit auch keine Lösung ist. „was soll ich dir sagen“ ist in dieser Hinsicht der konsequente Nachfolgesong. Etwas verstörend sind die hellen Backings im Refrain, wo man sich fragt, ob hier eine absichtliche Schräge eingebaut wurde. Die Saiten besitzen nicht nur hier ein latentes Western-Riffing (Akustik-Gitarre). Eine Spur romantischer erklingt „Warten auf Wunder“, behält aber trotzdem das angezogene Tempo bei, um dann mit „bitte geh mir aus dem Weg“ ein düsteres Kleinod zu zelebrieren, welches nur so von unterdrückter Aggressivität sprüht. Witt richtet sie nach innen und lässt sie treiben, treibt in Melancholie, ohne dabei in Selbstmitleid zu versinken. „Hände hoch“ überzeugt mit 70er Orgel und darkigen Folk Gitarren, dazu kommt chansonesker Sarkasmus in typischer Witt-Manier, wobei erst auf dem zweiten Ohr, das ganze Ausmaß der persönlichen Sozialstudie offenbart wird. (Hubert Kah spielt im Video mit)

„Lagerfeuer“ beherrscht die Melange aus schwermütiger Eleganz und traurigen Melodien. Hinzu kommt (naananana) im Refrain eine puristische Gänsehautatmosphäre. Teilweise scheint Witt hier auch im Dialog mit sich selbst zu stehen. Als kurzzeitiger Stimmungsauflockerer fungiert „1971 oder ein Mädchen aus Amerika“, die Beats werden flotter (inkl. Krachiger Strukturen) und die Saiten reagieren mit einem Lächeln. In „Alles was ich bin“ spricht Witt mit seiner verstorbenen Mutter und sagte Danke. Pathetisch ja, aber vollkommen unkitschig und mit wunderschönen, klaren Worten wird hier sehr gefühlvoll eine Beziehung beschrieben. Tragende Säule ist nicht nur hier, die dem Sohn gegebene Freiheit. Kein Wunder, dass auch im Schlusssong „Nachtflug“ das Wort „Freiheit“ an prägnanter Stelle steht.

Fazit: „Ich“ ist ein sehr intimes, ruhiges und stimmiges Album geworden. WITT hat es diesmal im Alleingang (neben Songwriting auch die gesamte Produktion) erschaffen, so klingt es teilweise, als ob sich Witt mit Gitarre in Spitzwegs „der arme Poet“ manövrierte und seinen Gedanken freien Lauf ließ. (andreas)