EMPFEHLUNG, REVIEW

SAMSAS TRAUM „Poesie: Friedrichs Geschichte“ (History Dark Rock)

samsas-traumSAMSAS TRAUM

„Poesie: Friedrichs Geschichte“
(History Dark Rock)

Wertung: Empfehlung!

VÖ: 02.10.2015

Label: Trisol

Webseite: Homepage / Facebook

Gott sei Dank hat man es nicht oft mit so einem Album zu tun. Nein, nicht weil es nicht gefällt, sondern weil es einfach sprachlos macht und Texte beinhaltet, welche dieses Album in den Bereich „Hörgenuss mit Schmerzen“ manövrieren. So hab ich es mehrmals nicht über Lied 2 („sauber“) heraus gebracht. Dazu aber später mehr.

Zunächst einmal ein paar Fakten: Die Band um Mastermind Alexander Kaschte feiert nächstes Jahr ihr 20jähriges Bestehen. Mit „Poesie…“ liegt nun das elfte Studio Album vor und der charismatische Alexander bleibt sich treu, fasst wieder heißes Eisen an und schmiedet es nach seiner ganz eigenen Art. Die Thematik „Drittes Reich“ hätte wohl kaum ein anderer derart umgesetzt.

Die Geschichte: Erzählt wird die Geschichte Friedrichs, die Geschichte eines in der Zeit des Nationalsozialismus aufwachsenden Jungen, dessen große Leidenschaft das Schreiben von Gedichten ist. Von seinem Umfeld als verhaltensgestört, von den Ärzten als schizophren eingestuft, ereilt ihn das Schicksal unzähliger anderer behinderter und psychisch kranker Menschen – sein Leben wird im Namen der Euthanasie in der NS-Tötungsanstalt Hadamar auf schrecklichste Weise beendet.

Für das, was kommt, ist die Instrumentale Eingangspforte („Es ist der Tod“) ein harmloses Kleinod in typischer Samsas Traum Manier. Elektronische Streicher treffen auf geriffte Marschrhythmen und werden mit sanften Piano Klängen unterlegt. Symphonisch liebreizende Harmonie. Dann geht es mit „sauber“ gleich ans Gemüt des Hörers, selbst wenn man kognitiv die Dinge verarbeiten kann, bleibt das Verstehen immer auf der Strecke. Kaschte beschreibt in dem Stück die politische Ansicht in Deutschland der 30er und 40er Jahre und erzählt mit einer lakonischen Leichtigkeit von den Abartigkeiten einer durch und durch gestörten Ideologie. Es fällt angesichts der Tatsache des Textes, schwer von einem Refrain zu sprechen, aber es gibt ihn und genau das, macht es noch schwerer, Ohr und Hirn zu verbinden. Aber man wird gezwungen: „Jag (Tipp) sie alle durch den Schornstein“ könnte man fast mitsingen. Ein grausamer Schmerz durchzuckt den Körper, wenn man sich dabei erwischt. Instrumental gesehen wird der Song von einer unterkühlten Düsternis getragen.

Für das folgende „und ich schrieb Gedichte“ stand das, aus dem 19ten Jahrhundert stammende Kinderlied „backe, backe, Kuchen“ Pate. Was Kaschte aus diesem Reim macht, gleicht einem adaptierten Alptraum („Backe, Backe, Kohlen – der Hitler wird dich holen“). Mir wird angst und bange bei dem Gedanken, dass braune Hohlköpfe derartige Reime bereits im Repertoire haben.

Textliches Vorbild für „wir fahren in den Himmel (und ich kotze)“ scheint diesmal Kraftwerks „Autobahn“ gewesen zu sein. Der Beginn ist hier stark elektronisch mit dezenten Verweisen auf Kaschtes „zweites Kind“ Weena Morloch“. Im weiteren Verlauf rücken die Gitarren in den Vordergrund gerückt. Und mit „Fingerkränze“ gibt es einen tieftraurigen Rap-Song der berühren müsste, aber irgendwie ist mir die Verschmelzung von Klassik, 80er Metal und Sprachgesang zu entfernt. Auch wenn der Song zum Schluss mit Streichern einer bedrohlichen Inszenierung gleicht und textlich die Gefühle perfekt transportiert. Ansonsten ist der Sprechgesang, den Alexander manches mal an den Tag legt, wesentlich besser für Rap-fern sozialisierte Ohren geeignet, als es rein subjektiv in diesem Stück erscheint.

Die menschenverachtenden Experimente mit den Insassen werden mit „Richard, warum zitterst du“ in Szene gesetzt.

In „Gorgass“ geht es um den Schlächter von Hadamar (bzw. Hadamar-Vergasungsarzt Hans Bodo Gorgaß). Kaschte erzählt hier aus der Ich-Perspektive des Schweins, die Geschichte, wie sie leider so oft in der Bundesrepublik geschrieben wurde. Nazi Richter wurden Richter, Euthanasie-Ärzte wurden Ärzte oder wie Gorgaß wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bielefelders Pharmaunternehmens (ach wie gut, dass niemand weiß, an wem unsere Pharmazeutika getestet wurden). Der Weg von Euthanasie zur Adenauers Amnestie war ein kurzer bzw. direkter. Gorgaß wurde 1947 zum Tode verurteilt, und nur die Einführung des Grundgesetzes verhinderte die Vollstreckung. Auch wenn es in dieser Beziehung schwer fällt, bleibe ich ein Gegner der Todesstrafe, gleichwohl hätte ich mir hier Selbstjustiz von den überlebenden Opfern gewünscht. Das hämische Lachen am Songende kann nur derartige Gedanken im Hörer erzeugen. Zudem beweist Kaschte, dass Empathie erstmal ein wertfreies Geschehen darstellt. Alptraum Nr.8 bei Song Nr.9.

„Leiche 10.000“ hat einen unbegreiflichen Hintergrund: Zur „Feier“ des 10.000. Toten in der „Landesheilanstalt“ Hadamar gab es für alle Verantwortlichen ein Bier und freudige Ansprachen der Direktion. Beschreibung einer widerlichen Szenerie, welche Samsas Traum hier ungeschönt wiedergibt. Zuhören als perfekte Verbindung zum Würgereflex.

Das folgende „es tut uns Leid“ erinnert an manche Aussagen/Erklärungen beim Nürnberger Prozess.

Zum Schluss wird es gar ein wenig romantisch verklärt, wenn das balladeske „was weißt du schon von mir“ nochmals den leidenden Protagonisten in den Mittelpunkt stellt.

Fazit: Eine vertonte Geschichtsstunde, Konzeptalbum im Musiktheater Stil, wobei die visuelle Umsetzung in den Köpfen passiert. Nazi-Hofberichterstatter Guido Knopp verblasst hiergegen zur Historikerblase. Hadamar war, ist und bleibt das Auschwitz Hessens und Kaschtes Friedrich erzählt die Geschichte. Dabei benutzt er die Ebene Täter/Opfer und nicht wie in der Belletristik zu diesem Thema meist üblich die Gut/Böse Ebene. Das bayerische Innenministerium würde das Album wohl nur kommentiert herausgeben. Zwangsläufig eine Empfehlung und einen kleinen Warnhinweis für sanfte Gemüter gibt es obendrauf. Ein durch und durch beklemmendes Album. Die musikalische Melange spannt den Bogen von Triphop, soundtrackaffiner Neoklassik, Metal, Progrock bis zur elektronischen Musik. (andreas)

P.S. Weitere Infos über Hadamar und eine eingerichtete Gedenkstätte findet ihr hier