EMPFEHLUNG, REVIEW

ROME „Defiance (EP)“ (Melancholic Folk) – 2. Meinung

ROME

„Defiance (EP)
(Melancholic Folk)

Wertung: Empfehlung!

VÖ: 08.07.2022

Label: Trisol Music Group

Webseite: Facebook

Jerome Reuters Musikprojekt ROME beschäftigt sich regelmäßig mit politischen Themen. Oftmals geht es um die Schrecken der Gewaltherrschaft: Totalitarismus, Autoritarismus, Unterdrückung, Machtmissbrauch – all diese politischen Abscheulichkeiten werden anprangert. Gewürdigt wird der Kampf für die Freiheit des Individuums. Zudem wird das Ideal der Solidarität gepriesen. Bislang galt Reuters Interesse vergangenen Repressionssystemen, ein Schwerpunkt war der Faschismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Reuters neuer Veröffentlichung geht es um ein aktuelles Gewaltherrschaftsthema, denn “Defiance“ beschäftigt sich mit dem Krieg in der Ukraine.

“Defiance“ bietet 4 Stücke: Zunächst gibt es drei Folksongs zu hören, das letzte Stück ist eine Klangcollage. Die Collage ist der Titeltrack der EP. Die drei Songs sind typisch für ROME, die Collage ist es auch. Die Lieder klingen eher bedächtig. Hingegen tönt die Collage brachial, denn hier werden typische Kriegsgeräusche (Luftschutzsirenen, Detonationen, Gewehrschüsse, Schreie usw.) zu einem Lärminferno zusammengefügt. Die grauenvollen Kriegsgeräusche dauern 1 Minute und 20 Sekunden. Die Lieder haben jeweils eine Spielzeit von 3 bis 4 Minuten.

Das erste Lied heißt “Going Back To Kyiv“. Gestartet wird mit zarten Gitarrenklängen. Der Song entfaltet sofort eine sehr melancholische Stimmung, die zugleich feierlich anmutet. Bald legt sich Reuters Singstimme über die dezente Gitarrengrundierung. Der Gesang klingt sehr bedächtig und gefühlvoll. Beim Refrain wird eine zusätzliche Gitarrenmelodie ins Klangbild eingewoben, der Gesang bleibt behutsam. Das Lied verliert beim Refrain nichts von seinem besonnenen Charakter. Vergleichsweise dramatisch gestaltet sich der Mittelteil des Lieds: Reuters Stimme ist kämpferisch, die Instrumentierung wuchtig. Der Schlussteil klingt wieder ruhiger. Jeder Teil des Songs berührt emotional sehr stark. Kein Zweifel: “Going Back To Kyiv“ ist ein großartiges Lied!

Der Text beschreibt das Grauen, das Elend und das Leid, das Putins Soldaten (“A murdering band of thieves“) über die Menschen in der Ukraine gebracht haben. Es wird aber auch Hoffnung verbreitet: Letztlich wird es den Ukrainern gelingen, die Soldaten des Schwerverbrechers Putin aus der Ukraine zu vertreiben (“But once they‘re driven back / There will be new dreams“). Eine Zukunft der Ukraine ohne Hass und Gewalt wird in Aussicht gestellt.

Besonders im zweiten Lied beschwört Reuter den ukrainischen Widerstandswillen gegen die russische Invasion. “The Brightest Sun“ bietet nicht nur die kämpferischste Musik der EP, sondern auch die eingängigste. Dem Klangbild des Songs sind auch elektronische Töne beigemischt. Bei den Strophen singt Reuter sehr leidenschaftlich und eindringlich. Engagiert ist der Gesang auch beim Refrain, allerdings wird hier auch ein Gefühl trotziger Gelassenheit vermittelt.

Im Refrain findet eine zurzeit in der Ukraine weitverbreitete Grußformel Verwendung: “Slawa Ukrajini“. Laut Wikipedia gibt es drei Möglichkeiten die Formel ins Deutsche zu übersetzen: “Ruhm der Ukraine“, “Ehre der Ukraine“, “Hoch lebe die Ukraine“. Seit 2018 ist “Slawa Ukrajini“ der offizielle militärische Gruß der ukrainischen Armee. Durch den Gruß wird zurzeit insbesondere der Wille zum Widerstand gegen die russische Invasion zum Ausdruck gebracht. Mittlerweile ist “Slawa Ukrajini“ auch in der Zivilgesellschaft der Ukraine eine gängige Grußformel.

“The Ballad Of Mariupol” ist das am traurigsten klingende Stück der EP. Angesichts des Leids, das die Schergen des Berserkers Putin über die Menschen Mariupols gebracht haben, ist es nicht verwunderlich, dass das Lied von tiefer Schwermut erfüllt ist. “The Ballad Of Mariupol“ ist sehr zurückhaltend instrumentiert. Das Lied besteht fast nur aus dezenten Gitarrenklängen und Reuters melancholischem Gesang. In der zweiten Hälfte des Stücks ist im Hintergrund ein düster klingendes Streichinstrument zu hören. Der Text würdigt die heldenhafte Opferbereitschaft der Verteidiger Mariupols – und er erinnert an die monströse Verlogenheit des Autokraten Putin und seiner Anhänger.

Auch durch diese EP wird deutlich, dass Jerome Reuter das Schicksal der Ukraine sehr am Herzen liegt. Am 24.02.2022 sind die russischen Soldaten in die Ukraine einmarschiert – und nur wenige Tage zuvor ist ROME in der Ukraine aufgetreten. Am 30.03.2022 hat Reuter bei YouTube ein Konzert zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge gespielt. Und am 05.07.2022 hat er in Lviv in der Ukraine die Bühne für denselben Zweck betreten. Es wäre schön, wenn noch mehr Künstler die Opfer des russischen Angriffskriegs unterstützen würden. Dass Putin zur Rechtfertigung des Angriffs die Propagandamethode der Täter-Opfer-Umkehr verwendet, ist besonders widerlich. Diese Agitation sollte viel stärker bekämpft werden. Auch dies ist eine Voraussetzung für ein wirklich freies Europa.

Fazit: ROMEs neue Veröffentlichung ist ein eindrucksvoller Akt der Solidarität! Jerome Reuter nutzt seine außergewöhnliche künstlerische Begabung dazu, den Überfall Russlands auf die Ukraine anzuprangern. Es war stets typisch für ROME, auf menschliches Leid hinzuweisen. Bislang geschah dies, indem in die Vergangenheit geblickt wurde. Dieses Mal blickt Reuter in die schaurige Gegenwart – und es gelingt ihm auf sehr überzeugende Weise, seine Hörer für das Leid der Menschen in der Ukraine zu sensibilisieren. Dieser Schritt in die Gegenwart krönt das bisherige Schaffen Reuters, die hohe Relevanz der Klangkunst von ROME wird noch gesteigert. Auch ohne den aktuellen politischen Bezug wäre jeder der drei Folksongs sehr hörenswert. Das hohe musikalische Niveau, das seit vielen Jahren typisch für ROME ist, wird aufrechterhalten. Die Klangcollage vermittelt einen heftigen Eindruck des grässlichen Kriegsgeschehens. Kurzum: “Defiance“ ist eine rundum gelungene Veröffentlichung! (stefan)

Anmerkung: Eine weitere Meinung von Michi zur EP lest ihr hier:
https://magazin.amboss-mag.de/rome-defiance-ep/