REVIEW

ARBEITSGRUPPE LOBOTOMIE „Etikettenschwindel“ (Politischer Elektro Wave/NDH)

ARBEITSGRUPPE LOBOTOMIE

„Etikettenschwindel“
(Politischer Elektro Wave/NDH)

Wertung: Gut+

VÖ: 24.08.2024

Label: Legwespenprodukte

Webseite: Homepage / Facebook

Als ich damals das erste Album dieser Band besprach und auch gegen negative Kritik verteidigte, hätte ich nicht gedacht, dass ich ein paar Jahre später das dritte Album der Münchener Formation mit der gleichen Spannung rezensiere. Wahrscheinlich hätte ich nie gedacht, dass die Band so lange existiert. Der Gegenwind von früher ist (teilweise war er es von Anfang an) zum Rückenwind von Heute geworden. Die Melange aus deutscher Härte und verführerischem Elektropop mit latenten Deutschrock Anleihen ist gelungen, beherbergt den ein oder anderen Ohrwurm und offeriert in manchem Refrain ein Gedankenkarussell, welches beim Mitsingen die Synapsen auf Habachtstellung vibrieren lassen. Bereits wegweisend für das Album ist das Coverartwork, welches die berühmten 3 Affen und ihrem „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ abbildet und welches in Japan als mizaru, kikazaru, iwazaru ausgedrückt wird. Es handelt sich einer gängigen Erklärung zufolge um die Paraphrase einer Erläuterung aus dem 12. Buch der Analekten des Konfuzius gegenüber seinem Schüler Yan Yuan über das Wesen der „Sittlichkeit“. Im Innern des Covers gibt es dann noch eine moderne Abwandlung der AGL.

Stampfend und störend wird das Intro in den „Störfunk“ geleitet. Nach kurzer Aufmerksamkeit wird klar, hier handelt es sich nicht um einen Podcast oder einen Sender aus BW. Es ist praktisch die Selbstbeschreibung der AGL, welche ihre gesellschaftspolitische Beschreibungen der Aktualität mit reichlich eigenen Meinungen verzieren, welche provozieren wollen, aufzuklären versuchen, Spiegel vorhalten und nicht zuletzt, den Blumenkohl im Kopf zur Arbeit anhalten. Mit „Das Produkt“ folgt ein treibender Song, der heftig in die Gehörwindungen dringt, gleichwohl eine sanfte Seite offenbart. Die weibliche Stimme scheint sich zu paaren, um später dem Zwiegesang eine unterschwellige Note des Widerspruchs einzuhauchen. Es geht um den ambivalenten Umgang mit sozialen Medien und der faszinierenden Frage: „Wer ist das Produkt?“.

AGL wären nicht AGL, wenn man aus der Parole „Nazis raus“ (welches von den meisten selbstverständlich so unterschrieben würde) eine Diskussionsgrundlage im gleichnamigen Song macht, in dem die Frage nach dem „Wohin“ hier nur als Beispiel dient. Danach werden wir alle „verarscht“, wobei hier geschickt das Kind (Osterhase, Weihnachtsmann) zu Beginn zum Heranwachsenden mutiert, der sich der „Verarschung“ immer noch nicht entzieht.

Zwischendrin garniert ein „Marionettentheater“ die Torte mit dem schimmeligen Neoliberalismus. Ein Gimmick, welches nicht nur Gelb-Magenta eingefärbte Parteien dem Wähler ins Körbchen legen, um damit das Rotkäppchen loszuschicken. Danach jagt man unterlegt von tanzbaren EBM durch die Welt der „-Isten“. Ob gegensätzlich, ergänzend oder beängstigend, die „-Isten“ bestimmen unser Leben. Romantisch lugt kurzzeitig die abgedrehte Elektronik hervor und beschäftigt sich mit der Verbindung von Geld und Gier, die leider nicht perfekt in die G-Geschichte von Heinz Erhardt passt, dennoch hat zwischendrin noch die „Macht“ das gesuchte Wohlfühlplätzchen gefunden. „Für Elite“ (welches dann und wann irgendwie an einen berühmten Song aus dem Jahre 1810 erinnert) handelt von den verschiedensten Unterscheidungen, die wir machen, und die Frage nach der „Elite“. In „Das böse Wort mit A“ geht es um die geniale Idee von so interessanten Menschen wie Bakunin (hier ist kurzzeitig nicht der Sänger gemeint), Kropotkin, Goldmann, Most usw. (Einer der frühen Anarchisten war für mich Rousseau, prägte er doch den genialen Satz: „Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem“ – Meine Meinung… ich glaube Nettlau erwähnt den auch nicht). Dazwischen befindet sich ein ganz wichtiger Song. „Teilt“ ist nur ein Wort, man müsste sich diesen Refrain vorstellen, wenn es Massen singen, während sie in Frankfurt vor der Börse stehen… vielleicht würden sich Bulle und Bär liebkosen.

 

Fazit:
Natürlich bleibt sich die AGL treu, dennoch muss man dem aktuellen Album eine musikalische Weiterentwicklung unterstellen, denn die Melange aus Rammstein’scher Rohheit, verführerischem Wave und traditionellem EBM in Verbindung mit weiblichen Gesängen und der harten Erzählung des männlichen Stimmbands ist heuer ausgereifter als auf den ersten beiden Werken. So besitzt zum Bsp. „Weit hinaus“ einen melodischen Charakter, der sich tief ins Herz der Schwarzgestalten brennen dürfte, einfach, weil er schön ist. Neben der Musik ist natürlich der Text die tragende Säule. Seit dem ersten Album, welches erstmals musikalisch abgetastet wurde, faszinieren natürlich die Themen und auch der Text. Weit weg vom Abnicken der unterschiedlichen Erklärungen zu aktuellen oder vergangenen (Gesellschafts)politischen Themen öffnet sich für mich hier doch ein Tor, dessen Durchschreiten so harmlos ist, wie das Durchstöbern der Parteiprogramme aller Parteien, nichtsdestotrotz so gefährlich ist, wie das Durchstöbern der Parteiprogramme aller Parteien. Nebenbei gelingt es der Band, die sokratische Methode anzuwenden, welche fast unbemerkt dem aufmerksamen Hörer fesselt. (andreas)