INTERVIEW, TOP THEMA

ARBEITSGRUPPE LOBOTOMIE :: Klarstellungsharmonika

Die Band hat in der kurzen Zeit seit der Veröffentlichung ihres Debüts „Spiegel der Gesellschaft“ bereits reichlich Gegenwind erhalten. Kritikpunkt vieler (und auch wohl der Mutter des Sängers) sind nicht etwa fragwürdige Titel und/oder Texte. Es ist die Darbietung, die Uniformierung und die damit einhergehende Darstellung (für Gegner, die Verherrlichung) von Diktaturen im Allgemeinen und der Nazi-Herrschaft im Speziellem. Natürlich spielt die Band damit und natürlich benutzt sie diese Zutaten als Provokation. Im Sinne „Cancel Culture“ scheint sie gebrandmarkt und ihre Beschäftigung mit der deutschen und internationalen Geschichte wird negiert. Dabei wird hier gesellschaftspolitisch vor allem anhand von Personen eine Zeit Revue passieren gelassen, welche durchaus den einen oder anderen Neuhistoriker in Streit versetzen kann. Die Arbeitsgruppe erzählt diese Geschichten (von Natascha, Rebekka, Tania, Gustl usw.) und verbindet diese Geschichten mit einer persönlichen Betrachtung der Gesamtgesellschaft und dem politischen System. Zusätzlich gelingt es der Formation, mit provozierenden Videos die Diktaturen dieser Welt ins Lächerliche zu ziehen. Ernst und Persiflage geben sich die Hand. Musikalisch bekommt der Hörer einen explosiven Mix aus Dark Electro, NDH und Klassik zu hören. Die Arbeitsgruppe Lobotomie ist eine satirische, gesellschaftskritische, politische (LINKS!), antikapitalistische Musikkapelle, die gerne auch darüber hinaus künstlerische Aktivitäten aufweist. Facebook / Homepage (andreas)

 

Kannst du zunächst ein wenig über die Idee und den Reifeprozess zur Arbeitsgruppe erzählen?

Bakunin Eisner: Die Grundidee entstand bei mir aus dem Umstand, dass bei Welle:Erdball die Gitarren fehlen. Somit hat sich folgender Gedanke gefestigt: Eine Band wie Welle:Erdball mit Gitarren wäre weltklasse. In dieser Richtung habe ich nicht wirklich Musik gefunden, die mir zusagte. Dann habe ich Kim, mit der ich schon mal Musik gemacht habe und welche die Tochter in „§§_§§_§§“ spielte, gefragt, was sie dazu sagt und ob sie dabei wäre. Sie stimmte zu und war dabei. Mit ihr baute ich das Grundgerüst auf.
Was das Projekt betrifft, wollte ich von Anfang an, dass jeder, der möchte, mitmachen kann. So entstand das „Künstlerkollektiv“.

 

War es schwierig, Mitstreiter zu finden?

Bakunin Eisner: Eher mühselig als schwierig. Die Erstbesetzung bestand aus Genossin Gesang, sowie aus Mitgliedern einer ehemaligen Band von mir. Die stellten aber fest, dass sie nicht wirklich für das Projekt motiviert waren. Somit war ich mit der Suche wieder fast am Anfang. Dummerweise sind die Herrschaften im Album abgebildet – vielleicht war das alleine die Motivation ;-).
Marcus kam über das Internetz zu uns. Er wollte grundsätzlich genau diese Musik machen und hat auch schon in ähnlichen, nicht mehr existenten Bands gespielt.
Mit Bruder Bass habe ich vor Jahren in der Band The ElRay gespielt. Ich habe ihn, nachdem wir uns Jahre nicht gesehen hatten, angerufen. Er kannte schon das Lied „Schallplattenspieler“ und meinte, er sei ganz großer Fan und wäre dabei.
Genossin Gesang meinte eines Tages, dass sie für bestimmte Songpassagen nicht die richtige Stimme hätte und dafür jetzt Althena da wäre.
Bob der Zombie ist in fast allen Projekten von mir involviert. Wenn ich jemanden brauche, ist er da. Er hat bis jetzt in jedem Clip von mir mitgespielt oder mitgewirkt.

Genossin Gesang: Bakunin und ich haben uns eher zufällig kennen gelernt. Als ich in einem Rock-Club Gutscheine verteilte, habe ich auch ihm einen in die Hand gedrückt. Ich weiß nicht genau, wie er darauf kam, aber er fragte sofort, ob ich da auftreten würde. Das verneinte ich, woraufhin er fragte, ob ich singen könne. Etwas verwundert meinte ich, dass das darauf ankäme, um was für ein Stück es sich dabei handelt. Da ich sehr neugierig bin, bin ich darauf eingegangen. Somit haben wir uns getroffen und er spielte mir seine Ideen vor. Seitdem bin ich bei dem Projekt dabei. Ich weiß nicht, ob er damals aktiv nach einer Sängerin suchte. Nachdem er aber Frauen beim Feierngehen nach ihren Gesangskünsten fragte, muss er wohl ein wenig verzweifelt gewesen sein. 😉

Bakunin Eisner: Nee, ich habe einfach JEDEN gefragt, als klar war, dass Kim das nicht einsingen wird. Am besten fand ich allerdings, als Genossin Gesang das erste Mal bei mir im Studio war. Da hatte sie auch ihre Geige mitgebracht. Sie sagte, sie sei etwas eingerostet. Dann stellt sie sich mit der Geige hin und feuert ein 1A-Heavy-Metal-Solo ab. Ich war schwer beeindruckt. Wobei ich mir hier die Frage stelle, weshalb wir so etwas nicht irgendwo eingebaut haben? Vielleicht beim nächsten Mal.

Ihr versteht euch als musikalischer Arm eines Künstlerkollektivs und bietet eine Satire und Persiflage auf diktatorische Systeme und eine überspitzte Darstellung unserer westlichen Welt. Wie geht ihr damit um, wenn euch Leute falsch verstehen oder falsch interpretieren?

Marcus: Teils ist es amüsant, teils ernüchternd. Meine Eltern (ehem. DDR-Mitbürger) z.B. haben eine massive Abwehr gegen Uniformitäten und totalitäre Systeme. Meine Mutter hat bis heute keines unserer Videos komplett gesehen, weil sie sich von Bakunins Uniform und dem Adler schlicht angewidert fühlt. Andererseits ist es echt saulustig, mit Bakunin in seiner Uniform durch München zu fahren oder zu laufen, um Fotoshootings/Videodrehs durchzuführen. Bei einem Fotoshooting mit Bakunin kamen drei Typen vorbei, die sich dafür interessierten, was wir darstellen. Bakunin hat daraufhin seinen Standard-Text rausgelassen „wir wollen auf Parallelen zwischen den 1920er/30er und heute hinweisen.“ Am Ende hat hatte keiner kapiert, worauf er hinauswollte. Erst auf das deutliche „wir sind gegen Nazis!“ waren sie glücklich. Diese Szenerie zeigt gut, wie schmal der Grat zwischen Verstanden/Missverstanden ist.

Bakunin Eisner: Das ist in der Tat eine Herausforderung. Hier kann man es nicht richtig machen. Man kann nur einfach seine Linie fahren und sollte ihr treu bleiben. Und wenn der ein oder andere sich ein paar Gedanken dazu macht, haben wir schon gewonnen. Falls wir direkt angeschrieben werden, antworten wir, aber bei öffentlichen Kommentaren ist es echt schwer.

 

Würdest du mir zustimmen, wenn ich sage, dass sich Satire und Persiflage eher auf die Videos als auf die Texte beziehen, welche doch (manchmal überspitzt) deutlich Stellung beziehen?

Bakunin Eisner: Das trifft es ziemlich auf den Punkt. Somit ist die Darstellung satirisch, der Inhalt ernst und die Form hart.

 

Wie kam der Kapellmeister zu seinem Namen (Bakunin Eisner)? Die beiden Namenspaten dürften nicht unbedingt auf der gleichen Wellenlänge gefunkt haben (Anarchist vs. Parlamentarist). Abgesehen von unterschiedlichen Zielen einer Revolution, was verbindet die beiden?

Bakunin Eisner: Es ist der Gegensatz, der zu diesem Namen führte. Die Sehnsucht nach einer Revolution, aber mit dem Wissen aus der Geschichte, dass diese so gut wie nie zum Besseren geführt haben. Die Konsequenz daraus ist für mich, es mit menschlichen Gedanken in den Parlamenten zu versuchen. Oder anders gesagt: keine Revolution, sondern revolutionäre Reformen.
Der Name fasst sehr gut zusammen, was für mich eins der großen Ziele dieses Kunstprojektes darstellt: in kleinen Schritten (wieder) zu einer sozialen Marktwirtschaft kommen. Kapitalobergrenzen wären schön. Natürlich sollte man den Fehler der Privatisierung einsehen und den Gang in den Neoliberalismus bzw. den Gang der Mont Pelerin Society (zentraler Knotenpunkt neoliberaler Netzwerke) umkehren. Das würde zum Beispiel die Wieder-Verstaatlichung des Telefonnetzes (inkl. Ausbau des Glasfasernetzes), der Bahn, der Post und der Stromerzeugung bedeuten. Wenn man dann die Pharmaindustrie und das Gesundheitswesen komplett verstaatlicht und es eine Krankenkasse für alle gibt, wäre es möglich eine menschengerechte Alterspflege bzw. menschengerechtes Gesundheitssystem auf die Beine zu stellen. Hierbei würden nämlich die Dividendenauszahlungen in Milliardenhöhe an die Eigentümer wegfallen und man müsste viel weniger Manager bezahlen. Zudem sollte Immobilienbesitz zu Spekulationszwecken verboten werden und die Mietkonzerne ebenfalls verstaatlicht werden. Mehr Beispiele und Argumente für die einzelnen Punkte würden hier aber den Rahmen sprengen.

 

Ein „Spiegel der Gesellschaft“ beschreibt das Nachdenken über die „jüngere“ Geschichte (ab 1918). Wie entstand die Auswahl, wo das Nachdenken im Detail Station machen wird?

Um ehrlich zu sein, hat sich das ergeben. Der Arbeitstitel lautete Arbeitsgruppe Lobotomie – Ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn mir Tatsachen in die Finger vielen, die ich interessant fand und in denen Abgründe der Menschheit deutlich wurden, war das ein Kandidat für die AGL und die Recherche ging los. Es flog auch vieles wieder raus oder wurde zensiert. Als wir die Lieder fertig hatten, kristallisierte sich schließlich ein klares Bild. Es war quasi eine agile Entwicklung.

Das Album beginnt mit Zitaten von „Politikern“ aus unterschiedlichen Epochen, daran schließt sich der Song „Zeit“. Wie würdest du die immanente Gesellschaftskritik in dem Song beschreiben und wo siehst du aktuell die Parallelen zu der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und heute?

In den zwanziger Jahren kam den Menschen die Zeit sehr schnell vor. Damals kam das Automobil vermehrt auf die Straßen und haufenweise neue Erfindungen auf den Markt. Heute kommt einem durch die Digitalisierung alles sehr schnell vor. Damals wie heute fühlten sich viele abgehängt. Wenn man Arbeit hatte, arbeitete man häufig bis zu 16 Stunden am Tag, ging nach Hause und viel ins Bett. Die menschliche Kapazität zum Nachzudenken und sich zu wehren, hielt sich dadurch in Grenzen.
Heutzutage wird oft bis zu 8 Stunden am Tag gearbeitet und der Rest der Zeit wird am Bildschirm (Smartphone, Smart-TV und PC), im Auto oder Bahn, beim Einkaufen etc. verbracht – von den Softwarefehlern und dem schlechten Internetz im Lande mal ganz abgesehen. Da bleibt auch nicht viel Zeit zum Nachdenken, wenn man all seine Feeds bei all seinen Accounts durchchecken und liken muss, damit man selbst auch geliked wird. Somit bekommt kaum einer mit, was wirklich passiert.
Nicht zuletzt die Spaltung der Gesellschaft, die Konzentration des Kapitals auf einige wenige und die immer größer werdende Verunsicherung. Das war damals der Fall und es ist heute der Fall. Wir werden sehen, wohin das führt und ich hoffe, dass wir es schaffen, dass sich zumindest in diesem Fall die Geschichte nicht wiederholt. Allerdings sagt mir die Geschichte anderes.
In dem Lied geht es ja darum, dass viele Menschen ihre Lebenszeit dafür verschwenden, andere reicher zu machen. Wieso arbeiten die Maschinen und Computersysteme nicht für alle Menschen, sondern nur für einige wenige? Wieso verteilt man z.B. die Amazon-Anteile nicht einfach auf die Belegschaft? Aufgeteilt wegen unverschämter Größe ;-). Ich meine am Ende des Tages regt sich nur ein Jeff Bezos auf und 1,3 Millionen Mitarbeiter freuen sich. Jetzt freut sich nur Jeff Bezos und 1,3 Millionen Mitarbeiter ärgern sich (wenn sie sich nicht vor Jahren Aktien gekauft haben oder auf einem Managerposten die Luft erwärmen).

Wie entstand die Idee zum Video zu „Zeit“, welches ihr auch als Hommage zu Michael Endes Momo seht?

Marcus: „Zeit“ war eigentlich nie als Single bzw. Video geplant. Bakunin und ich fuhren von einer unserer Musikproben nach Hause (als das noch möglich war). Ich habe Bakunin davon erzählt, dass mich die Handysucht meiner Mitmenschen (naja, manchmal bin ich selber nicht besser) aufregt. Vor allem bei der jüngeren Generation und den sogenannten „Influencas“ (Oder Influenzern?). Daraufhin kam Bakunin die Parallele zu den grauen Herren in Momo in den Sinn. Es war eher Zufall, dass der Text von „Zeit“ so gut zu den „modernen“ Grauen Herren Netflix, Facebook, Instagram & Co. gepasst hat, die letztlich durch die Zeit der Menschen ihr Geld verdienen. Wir fanden die Idee jedoch so gut, dass wir daraufhin dieses Video produziert haben.

 

In „§§_§§_§§“ setzt ihr euch mit der deutschen Justiz auseinander. Die Unabhängigkeit der Justiz ist eine wichtige Säule der Demokratie. Das Bild, welches ihr mit dem Song malt, ist nicht gerade von Vertrauen geprägt und beschreibt die Justiz als „in sich total geschlossene Macht, die das Geld des Volkes raubt“. Da ihr ja viel in Zeitepochen denkt, gibt es nicht eine Verbesserung im Vergleich zur Nachkriegszeit, als sich viele Nazis in Roben kleideten? Stand der Slime-Song „Gerechtigkeit“ ein wenig Pate?

Bakunin Eisner: Es ist ja so: Wenn man einen Rechtsstreit hat, kann es dem Anwalt egal sein, ob der Fall gewonnen oder verloren wird. Er verdient auf alle Fälle sein Geld. Er treibt den Streitwert irrwitzig nach oben, um noch mehr Geld zu bekommen. Ich sehe das so: Wir haben ein gutes Grundgesetz. Damit könnte ich leben. Aber dann gibt es so irrwitzig viele Gesetze, um diese umgehen zu können. Das kann man aber nur, wenn man sich die jeweils spezialisierten Anwälte leisten kann. Somit kommt bei der gleichen Tat der Reiche besser weg als der Ottonormalverdiener.
Ob es besser oder schlechter ist, ist sehr schwer zu beurteilen, weil man ja alle Faktoren einbeziehen müsste. Ich würde es umdrehen und behaupten, dass das Rechtssystem komplett reformiert werden sollte. Zu viel wurde aus der Vergangenheit in die Gegenwart verschleppt.
Um ehrlich zu sein ist der Song und das Video eine persönliche Abrechnung mit dieser Justiz. Ein wirkliches Urteil kann man meist nur in zweiter Instanz erwarten und das kann sich ja keiner leisten. Ich habe persönlich zwei Mal vor Gericht erlebt, wie man Logik und Vernunft einfach aushebelt. Der Steuerprofessor in meinem Studium hat immer gesagt „auf hoher See und vor Gericht bist du in Gottes Hand“. Und so sehe ich das auch. Allerdings bin ich nicht gläubig und dann bleibt halt nicht mehr viel in diesem Spruch.
Lustig, dass du den Song von Slime ansprichst. Aber in der Tat habe ich jetzt erst durch dich die Parallelen gesehen. Vielleicht hat er ja unterbewusst eine Rolle gespielt.
Aus meiner Sicht ist dieses Rechtssystem nur eine Arbeitslosigkeitsbekämpfung auf hohem Niveau. Egal wie gut oder schlecht dein Anwalt ist (und das kann man ja nicht objektiv bewerten, wenn man kein Jurist ist, sonst bräuchte man ja keinen Anwalt) – du bist dem ausgeliefert, was er dir sagt. Er bekommt sein Geld so oder so. Er hat keine extrinsische Motivation, dem Klienten zu helfen.

Althena: Natürlich gibt es Veränderungen und Verbesserungen im Vergleich zum Justizsystem der Nachkriegszeit. Angefangen von der Abschaffung einer erschreckend hohen Anzahl an Gesetzen, in denen die nazistische Denkweise erkennbar wurde und so weiterhin das Leben der Menschen beeinflusste, über die schrittweise Ersetzung der Alt-Nazis in derartigen Ämtern. In Vergessenheit geraten darf hierbei auch nicht die Tatsache, dass jahrzehntelang weiter Prozesse gegen ebendiese Menschen geführt wurden und wir erst heute an einem Punkt angekommen sind, an dem dieses Thema zumindest dahingehend überhaupt zu einem Abschluss kommen kann. Dennoch bietet sich der Vergleich als hyperbolisches Stilmittel – wie sie die AGL gern nutzt – an. Die Gefahr einer zu mächtigen Obrigkeit, fließenden Übergängen in der Gewaltenteilung und einer bestechlichen Justiz besteht immer: heute wie damals.

 

Mit „Mollath“ gibt es danach gleich passend die Behandlung mit einem Justizirrtum. War euch wichtig, dass es in dem Song auch um die Anklägerin geht und im Refrain dann deutlich wird, dass so etwas eigentlich jedem passieren kann?

Bakunin Eisner: Ja. Es ist ja so unglaublich, was einem alles passieren kann. Wenn man es darauf anlegt, kann man einfach einen Menschen verschwinden lassen. Und da hier und da nicht so genau hingeschaut wird, rutschen da oft welche durch. Auf der anderen Seite ging es auch darum darzustellen, was es für unfassbare Menschen gibt. Dass es Menschen gibt, die für Geld Leben zerstören. Für mich ist das total unfassbar und ich verstehe auch nicht, wie diese Menschen morgens in den Spiegel schauen können.

Althena: Justizirrtümer sind ein sehr reales und zeitgleich beängstigendes Phänomen. Auch wenn sie in dieser Intensität selbstverständlich die absolute Ausnahme darstellen, wollten wir hier eine Gefahr aufzeigen, die einem jeden Justizsystem inhärent ist: der Mensch. Menschen sind fehlbar. Sie können sich irren, von unlauteren Motiven geleitet und beeinflusst werden. Manche Individuen machen sich dies zu Nutze, wenn sie mit der Justiz interagieren. Hieraus können fatale Folgen entstehen, gegen die sich zu wehren mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann.

Mit „Natascha K“ wird ein weiterer realer Fall bearbeitet. Wer euch kennt, weiß, dass es schlussendlich weit über die Beschreibung der Marter hinausgeht. Im Endeffekt bleibt Natascha K eine Sklavin. Habt ihr im Vorfeld Kontakt mit ihr gehabt und denkt man beim Songwriting an die Gefühle des Menschen Natascha?

Genossin Gesang: Für mich geht es hierbei um die Aussage, die wir damit hoffen vermitteln zu können: Niemand ist heute noch wirklich frei. Der Kapitalismus versteht sich sehr gut darauf, den Menschen zu versklaven, häufig ohne dass er es überhaupt mitbekommt. Wie Natascha, die zwar ihre körperliche Freiheit am Ende wiedererlangt, aber doch noch gefangen ist: durch die endlose Vermarktung ihrer Geschichte.

 

„Tania“ beschreibt die unglaubliche Geschichte von Patty Hearst, die 1974 durch eine spektakuläre Entführung durch die linksradikale Symbionese Liberation Army (SLA) bekannt wurde. Sie schloss sich dieser an, wurde nach ihrer Verhaftung zu einer Gefängnisstrafe wegen Bankraubs verurteilt und später begnadigt. Wie bist du auf diese Geschichte aufmerksam geworden und was ist deine Meinung dazu, dass es sich hier um ein Stockholm-Syndrom handeln könnte?

Bakunin Eisner: Um ehrlich zu sein, wurde mein Interesse an Patricia Hearst geweckt, als ich zufällig eine Dokumentation über sie sah. Am faszinierendsten war für mich, dass sie zuerst lebenslänglich verknackt wurde, nach zwei Jahren rauskam und schließlich von Bill Clinton begnadigt wurde. Egal ob rechtmäßig oder nicht – jeder normal Sterbliche Mensch ohne derartige finanzielle Mittel hätte den Großteil der Zeit abgesessen. Dann von Gerechtigkeit zu sprechen, wäre purer Zynismus. Was das Stockholm-Syndrom angeht, bin ich natürlich kein Fachmann. Für sie war es, meines Erachtens nach, eine Möglichkeit aus dem „Käfig“ auszubrechen – eine Gelegenheit zur Emanzipation aus ihrem Elternhaus. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre sie allein wohl niemals auf die Idee gekommen z.B. eine Bank zu überfallen, wenn sie nicht (zumindest anfänglich) Opfer der SLA geworden wäre.
Der Grundgedanke der SLA war, wie so oft bei ähnlichen Geschichten, grundsätzlich ein guter. Dass die Mittel, die sie zur Durchsetzung dieser Grundidee verwendeten, fragwürdig sind, steht nicht zur Debatte. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Terror fast nie zielführend und fast immer kontraproduktiv ist.

 

Gibt es bei der bedrückenden Erzählung über „Rebekka N“ auch eine reale Person, deren Leben hier verarbeitet wurde? Zunächst dachte ich, dass hier ein übles Kriegsverbrechen beschrieben wurde, es scheint aber eher um ein „Nachkriegsverbrechen“ und was dadurch aus Rebekka geworden ist, zu gehen. Kannst du uns die Erzählung ein wenig näherbringen?

Bakunin Eisner: In der Tat. Auch diese Geschichte wurde in einer sehr romantisierenden Art und Weise für den Mainstream verfilmt. Die Dame hatte eben viele Namen. Ihr bürgerlicher Name war Rosemarie Nitribitt und der Film heißt: „Das Mädchen Rosemarie“. Der Hintergrund ist, wie meistens, dass andere Regeln gelten, wenn man reich und mächtig ist. Sie, als Edelprostituierte, hatte mit der Oberschicht zu tun, wurde ermordet und die Beweise sind verschwunden. Komisch.

 

Würdest du das Schlussstück „neue Welt“ eher als Kampfansage oder als „Hoffnungsschimmernden Ausblick“ ansehen?

Bakunin Eisner: Eher als Hoffnungsschimmer. Hierbei geht es einerseits um den Status Quo und andererseits um ein Gedankenspiel, was sein könnte, wenn das System, wie wir es kennen, vor die Hunde geht. Vielleicht werden Themen wie Geld und Zinsen reformiert oder von anderen Systemen abgelöst. Möglicherweise werden Werte, zu denen sich unsere Gesellschaft zwar heutzutage schon bekennt, aber bisher nicht wirklich lebt, durchgesetzt und damit zur Normalität. Allein schon durch eigenständiges Denken kann viel erreicht werden. Wenn Menschen aufgrund ihres Gerechtigkeitsgefühls handeln und nicht danach, was andere ihnen vorleben, wäre schon einiges getan.

Eure aktuelle Single ist das Die Ärzte-Cover „Schrei nach Liebe“. Was sagt denn die Berliner Band zu eurer Version oder gibt es gar noch einen Rechtsstreit??

Bakunin Eisner: Bisher haben wir keine Stellungnahme der Die Ärzte erhalten und ich glaube auch nicht, dass es ihnen auffallen wird.

 

Neben dem reichhaltigen Fundus an Themen und Texten, gibt es da auch noch die Musik. Wie würdest du die Musik mit eigenen Worten beschreiben und warum ist sie der passende Untergrund für die verschiedenen Thematiken?

Bakunin Eisner: Ich beschreibe unsere Musik immer als eine Mischung aus Rammstein und Welle:Erdball, wobei hin und wieder Fagott und Geige eine Rolle spielen. Da können sich zumindest diejenigen etwas darunter vorstellen, die Welle:Erdball kennen.

Genossin Gesang: Bakunin verwendet dafür gerne Adjektive wie „krass“, „brachial“ oder „brutal“. Ich selbst finde das als Beschreibung nicht ausreichend. Klar, die Beats und Bässe sind vielleicht nicht für Kuschel-Musik geeignet. Da unsere Themen aber nicht gerade zum Kuscheln einladen, passt das ganz gut, finde ich. Die Musik besteht nun aber nicht nur aus den „harten“ Aspekten, sondern bekommt durch das Fagott von Clara, meiner Geige und auch meiner Stimme (wenn ich das mal so eingebildet sagen darf) einen lieblicheren und wärmeren Farbton. Manchmal unterstreicht dieser Kontrast die Absurdität der Situation, verdeutlicht also in meinen Augen manche Missstände noch.

 

Ihr verhehlt auf eurer Homepage nicht eure Kritik an soziale Medien (z.B. sind Verweise zu Links so beschrieben „Asoziale Unternehmen, die den Nutzer zum Produkt degradierten und die Musik verramschen:“). Auf der anderen Seite benutzt ihr diese Medien und im Endeffekt sind diese Medien auch wichtig für das Gesamtkunstwerk AGL. Wie würdest du diesen Zwiespalt beschreiben?

Bakunin Eisner: Ich sage immer: Man kann ein Flugzeug nicht entführen, wenn man nicht einsteigt, deshalb habe ich auch BWL studiert. Wenn ich mich mit einem Plakat auf die Straße stelle, auf dem Steht „Die (a)sozialen Medien könnten auch Ihre Lebenszeit stehlen und du bist kein Kunde, sondern das Produkt“ sehen das ja nicht die Menschen, die die ganze Zeit auf das pfiffige kabellose Fernsprechgerät gucken – also schauen wir aus dem Gerät hinaus und schreien sie an – dann können sie uns sehen und hoffentlich hören.

Marcus: In meinen Augen ist das ähnlich zu sehen, wie die Tatsache, dass ich als Mensch in ein bestimmtes System reingeboren werde. Ein System, in dem es bestimmte Werte, Ansichten, Rechte und Pflichten gibt, die ich berücksichtigen muss, um ein Dach über dem Kopf zu haben, nicht hungern zu müssen und um mich selbst verwirklichen zu können.
Und da sind manche Werte, Ansichten, Rechte und Pflichten dabei, die für mich ein notwendiges und hinnehmbares „Übel“ darstellen, dass ich einfach in Kauf nehmen muss. Es ist die Frage, wo meine Schmerzgrenze liegt.
Die asozialen Medien sind vor allem in der Corona-Zeit ein notwendiges Übel, um unsere Idee zu transportieren. Du kannst nicht einfach Plakate irgendwo aufhängen, weil ja nichts offen hat. Du kannst dich nicht von Bühne zu Bühne hangeln und dir einen „Namen“ erspielen, wenn es keine Konzerte gibt. Aber auch ohne Corona müssten wir auf die asozialen Medien zurückgreifen. Wobei ich das eher als einen Missbrauch für unsere Marketing Maschinerie sehe 😉

 

Was ist für die Zukunft geplant, gibt es schon Pläne wie die Live-Shows aussehen sollten?

Genossin Gesang: Wir drehen gerade die bewegten Bilder der letzten Singleauskopplung des Albums „Ein Spiegel der Gesellschaft“ – Digitales Herz.
Pläne für Live-Shows sind zwar schon existent, sollen hier aber (noch) nicht verraten werden. Die ursprünglich geplante Release-Show ist durch Corona ja leider ins Wasser gefallen. Momentan sind wir auch dabei, Ideen für ein zweites Album zu sammeln. Außerdem wird natürlich der Fernsehsender Paula Nipkow weiterhin mit unserem Gehirndurchfall gefüttert, was nicht heißen soll, dass sich zwischendurch nicht vielleicht doch auch ein Video mit wirklicher Botschaft im Inhalt dort hinein verirren könnte. 😉

Bakunin Eisner: Zudem erscheint am 16.04.2021, am Geburtstag von Charly Chaplin, die letzte Auskopplung aus dem Album „Ein Spiegel der Gesellschaft“ mit dem Titel „Digitales Herz“. Als Sahnebonbon gibt es für die Streamingdienste die Titel „Melkmaschine“, „Tanja“ und „Zombis in C“ dazu.
Nur zur Verdeutlichung: Wir warten sehnsüchtig darauf die Bretter, die die Welt bedeuten, wieder betreten zu dürfen.

 

Vielen lieben Dank für das Interview Andreas. Du hast dir wirklich viele Gedanken gemacht und bei manchen Fragen hätte ich ganze Bücher schreiben können – jeder Ansatz dafür wurde von Genossin Gesang und Althena unterbunden. Ich hoffe, wir haben die Fragen zu deiner Zufriedenheit beantwortet und langweilen deine Leser nicht 😉