THE JESUS AND MARY CHAIN
„Damage And Joye“
(Shoegaze/Wave/Alternative)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 23.03.2017
Label: Rykodisc/Warner
Webseite: Wikipedia / Homepage / Facebook
Manchmal kommen sie wieder. Die Schotten machten zunächst 1985 auf sich aufmerksam, im positivsten Sinne mit ihrem Debüt „Psycho Candy“, eher im Negativen, mit extrem kurzen Live Auftritten. So sah ich ihr Konzert in Bochumer Zeche ’85 mit 35 Minuten Spielzeit, zwei Jahre später gab es 20 Minuten mehr. Im gleichen Jahr erschien auch „Darklands“, welches die Band von einer wesentlich melodischeren Seite zeigte. Gespickt mit Hits und All-Time-Favorites immer noch ein Meilenstein.
Genau dort machen die Gebrüder Reid weiter, die man auch als Oasis des Shoegaze bezeichnen könnte („I hate my brother and my brother hates me/ that’s the way it’s supposed to be“, singen sie schwarzhumorig in „Facing Up to the Facts“). Derweil gibt es nicht wenige, die behaupten, die Schotten hätten das Genre Shoegaze erfunden. Egal, mit solchen Banalitäten soll sich das Feuilleton auseinandersetzen. Rein auf das musikalische Jetzt bezogen gelingt der Band ein Werk, dass die ganze Klasse ins neue Jahrtausend transportiert. Scheiß auf Altersreife, scheiß auf altmodisch, hier ist das ultimative Shoegaze Werk des neuen Jahrtausends. Und tausende von jungen Bands fragen sich, warum haben wir derartiges in den letzten Jahren nicht hingekriegt?
Oben steht „gespickt mit Hits“ ich muss das einfach hier noch mal wiederholen, denn „Demage and Done“ kann als Gesamtkunstwerk faszinieren, aber auch jeder einzelne Song hat das Zeug als Single in Dauerrotation in einschlägigen Radiosender zu laufen. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, evtl. beim 60ties beeinflussten Schlußstück „can’t stop the rock“, welches wie die Kampfansage einer Rockband an die amerikanische Kriegstreiberei klingt, oder beim Opener, welcher als krachender Moloch mit ouioiouiou Refrain daherkommt und fortan mit lakonischer Leichtgängigkeit glänzt. Die Melodie aus dem Nichts, der Refrain überraschend und der Gesang zwischen Abwesenheit und Überraschung. Zwischendrin die krachige Komponente mit abgefransten Rückkopplungen. Das Video als visueller Trigger der Epilepsie.
Dann wird es ruhig, fast heimelig, zumindest romantisch. Das Kaminfeuer knistert, während der DVD Player einen alten Italo-Western abspielt. „War on Peace“ lässt der ruhigen Seite ihren Platz und galoppiert dann davon. Atemlos. Wunderschön, dass mit weiblichen Gesang verzierte „Song for secret“ (erinnert ein bißchen an „sometimes always“ von Stoned & Dethroned), dessen klangliche Eleganz wie eine wärmende Decke wirkt, in der man sich einkuschelt. Insgesamt hat man vier Gastsängerinnen in die Songs integriert, welche allesamt den Songs eine Gefühlsebene verleihen, welche sich einer betörenden Romantik nicht entzieht.
Das bezaubernde „Los Feliz (Blues and Greens)“ zeigt die Band von einer gefühlvollen, fast zerbrechlichen Seite, der Text..eine Ironie? Im folgenden „Mood rider“ wechseln sich krachige Extravaganzen mit hymnischen Refrain ab. Das Gesamtkonstrukt schräg und mit verzerrter E-Gitarre arrangiert. Diese Wildheit besitzt auch, der im Mark perfekte Brit Pop-Song „Presidici (Et Chapaquiditch)“, welches dann vom galant-nasalen Gesang in eine betörende Harmonie geführt wird. Herrlich auch, wie es gelingt im Intro ein bißchen auf die Sisters zu schielen um fortan einen Alternativ Rock Song zu kredenzen, der schwungvoll, grazil und druckvoll zugleich ist. Ganz dezent lässt man die Dunkelheit einfließen, um sie sogleich mit wilden Riffs und exzessiven Drums zu negieren. Die Harmonie der Eingängigkeit bleibt, wenn auch verzerrt, wie ein von Dali gezeichneter van Gogh.
Fazit: THE JESUS AND MARY CHAIN klingen als wären sie nie weg gewesen und hätten 18 Jahre an einem perfekten Album gebastelt. Textlich variieren die Schotten zwischen britischem, schwarzen Humor (wohl dezent über das Ziel hinaus geschossen bei „simian split“, dessen Interpretation Manson, Jesus und Kurt Cobein in Einklang bringen könnte) und einer unprätentiösen politischen Meinung. Die einzelnen Songs atmen mit jeder Faser den Shoegaze, wirken selten angestaubt und besitzen diesen typischen Brit-Pop Charme, der sich mit einer melodischen Schräge bewaffnet und doch nur mit blumigen Refrains schießt. Wenn ein bekanntes deutsches Musikmagazin das langweilig findet, ist das eher einer Provokation geschuldet. Ich hatte beim Genuss des Werkes die schönste Langeweile seit Jahrzehnten. (andreas)