LIVEBERICHT

SLIME + DANIEL RYSER :: Geschichtsunterricht in drei Akten


Live in der Musa in Göttingen am 19.04.2013

Über SLIME habe ich mich ja in letzter Zeit häufig äußern dürfen, sei es durch die Livereviews der grandiosen Konzerte 2010 und 2012, meine Jahres-Bestenliste 2012 oder das großartige Buch von Daniel Ryser „SLIME – Deutschland muss sterben“. Genau dieses Buch ist auch der Grund, warum wir uns wieder einmal nach Göttingen aufmachen: drei Fünftel der Band (Elf, Dirk, Christian) und der Autor selbst halten einen bunten Abend für die Fans bereit. Es soll eine Lesung, ein Interview und einen akustischen Gig geben. Wie genau das alles funktionieren wird, ist uns im Vorfeld nicht ganz klar, aber die Vorfreude genau deshalb umso größer.

Die Musa ist heute schick für eine Lesung hergerichtet, denn es wurden 13 kleine Tische aufgestellt (wenn ich mich nicht verzählt habe) und man darf altersentsprechend (in unserem Fall) sitzend den Abend verbringen. Dass die Plätze nachher alle besetzt sind und sich die Zuhörer und Teilnehmer im hinteren Teil breit machen, versteht sich irgendwie von selbst.

Im „Vorprogramm“ läuft heute ein Film: Fotos mit SLIME-Musik unterlegt, aber auch uralte Videoclips von Auftritten, die teilweise zurückdatieren bis zum Anfang der 80er Jahre! Sehr nostalgisch, aber auch extrem interessant zu sehen, wie es damals auf Konzerten abging und vor allem, wie beschissen man in den 90ern ausgesehen hat. Ob Punk oder nicht: die 90er waren eine extrem hässliche Zeit. Aber dennoch ist der Film eine schöne Einstimmung auf den folgenden Abend.

Erster Akt – Die Lesung

Die Bühne teilt sich, genau wie der Abend, in drei Teile: zwei Sofas, vier Mikros auf dem Couchtisch auf der einen Seite. Barhocker und akustische Gitarren auf der anderen Seite, in der Mitte ein Mikrofon. An genau dieses tritt Daniel Ryser zum Beginn des Abends und ohne Firlefanz, Show oder fliegende Zwerge geht es los. Er liest ausgewählte Stellen aus seinem Buch und erwähnt, dass er leider nicht das ganze Buch vorlesen kann, weil die Band sonst wieder zu betrunken wäre, um nachher noch zu spielen, aber dennoch werden die Gäste mit ca. 60 Minuten Geschichte bestens unterhalten. Viele haben das Buch noch nicht gelesen und hören diese teilweise haarsträubenden Geschichten zum ersten Mal, wie z.B. davon, wie das Bundesverfassungsgericht das Lied „Deutschland muss sterben“ zur Kunst erklärt (siehe auch das Urteil), Dirk beinahe einen Bandenkrieg ausgelöst hätte, Christian in einem nicht gerade kuscheligen Elternhaus aufwuchs oder wie die RAMONES Elfs Leben verändert haben. Aber auch die nicht-anwesenden Nici und Alex werden porträtiert, was besonders bei Alex extrem witzig ist, denn wer pisst schon in Jürgen Drews′ Swimmingpool? Nebenbei bekommt man die Unterschiede der Punkszenen Ruhrpott und Hamburg erklärt und Nici ist von der Sorte „starke Frau“, die man aufgrund ihres hübschen und sympathischen Erscheinungsbildes nicht unterschätzen darf, denn „ihre Sätze sind wie Faustschläge“.

Daniel Ryser trägt die Geschichten aus dem Paralleluniversum gekonnt vor und man hört seiner Stimme gerne zu. Als die Lesung endet, ist auch das Publikum aufgetaut und die Zeit verflogen. Es kommt einfach keine Langeweile auf, wenn man solchen Geschichten lauschen kann.

Zweiter Akt – Das Interview

Nachdem Daniel seinen Vortrag geschlossen hat, kommen Elf, Dirk und Christian auf die Bühne und setzen sich auf die Sofas. Jetzt startet ein Interview mit der Band, aber es startet holprig. Man hat gestern in Bremen im Rum Bumpers (der Kneipe von Nici) ordentlich getankt und hängt heute vielleicht etwas in den Seilen und die 0:3 Niederlage für St. Pauli ist nun auch nicht zwingend ein Aufputschmittel. Daher gibt Elf erst mal die Redekarte ab und fragt Daniel, wie er dazu gekommen ist, ein Buch über die Band zu schreiben und so langsam kommt die Kutsche ins Rollen. Im Laufe des Gesprächs wird es agiler und strittige Thesen wie „Gegengewalt ist eine legitime Form des Widerstandes“ wird mit „Gewalt ist immer scheiße“ aus dem Publikum beantwortet. Dennoch bleibt alles friedlich.

Offen spricht man auch über die Relevanz der alten Texte und zu „A.C.A.B.“ sagt Dirk, dass die Ultras in St. Pauli letztens ein Banner hatten, auf den stand: „A.C.A.B.A.B“, was übersetzt heißt: „All Cops Are Bastards Außer Boll“… (an alle Nicht-Fußballer: Fabian Boll ist Mittelfeldspieler und St. Pauli-Ikone und Halbtags-Kriminaloberkommissar). Auch „Bullenschweine“ handelt von BullenSCHWEINEN, also den Cops, die ihre Position ausnutzen, andere drangsalieren und einfach nur scheiße sind. Elf sagt aber sinngemäß, dass es sicher auch den einen oder anderen netten Verkehrspolizisten gibt, der den Verkehr regelt. Man sieht schon, man wird „erwachsen“, sieht die Sache teilweise differenzierter. Aber wenn, laut Dirk, die Polizei einer rechten Demo pro NSU der Weg durch eine antifaschistische Gegendemonstration den Weg freiprügelt, hat der Text immer noch Bestand und solange sich die Zustände nicht ändern, wird auch er seine Meinung nicht ändern.
Interessant ist auch der Teil der Geschichte, in der nochmals thematisiert wird, wieso, weshalb, warum sich jemals Nazis auf SLIME-Konzerten getummelt haben. Das ist die hautnahe Geschichte einer Subkultur, die spannender nicht sein könnte.

Dritter Akt – Der Gig

Eine der druckvollsten Punkbands gibt einen Akustik-Gig. Im Vorfeld habe ich arge Zweifel, dass diese Unternehmung Sinn macht. Schließlich bin ich fest der Meinung, dass die einzigen Menschen, die ungestraft akustische Gigs spielen dürfen BOB DYLAN, JOHNNY CASH und BLOODSUCKING ZOMBIES FROM OUTER SPACE heißen. Aber dann: „A.C.A.B.“, „Religion“ (es geht Anno 2013 nicht um die Menschen, die spirituell sind und an etwas glauben, es geht gegen die Leute, die mit missionarischem Eifer versuchen anderen ihre Sichtweise und Doktrinen aufzudrücken) und „Schicksalsspiel“ blasen jeden Zweifel weg. Dirks Stimme passt perfekt zu dem akustischen Gewand und wer glaubt, er wäre ein typischer Punk-Schreihals, sollte noch mal hinhören. Ausdrucksvoll und intensiv trägt er die Texte vor. Bisher war der Gig sehr gut, aber mit den Songs „Zweifel“ und „Gewalt“ wird es genial: die Texte gewinnen so unglaublich viel an Durchschlagskraft, dass ich ehrlich erstaunt bin, wie grandios das ist. Ohne Scheiß, das ist richtig große Kunst. Ausdruck braucht keine Lautstärke. Danach gibt es die beiden Songs „Wir geben nicht nach“ und „Freiheit in Ketten“ vom aktuellen Album. Die Erich Mühsam-Texte sind für eine akustische Untermalung wie gemacht. Dirk macht die Leute neugierig, indem er als letzten Song ein Stück ankündigt, welches Christian und Elf „vor ein paar Monaten extra für die diese Tour und das Buch geschrieben haben“… und den musikalischen Paukenschlag und Schwanengesang liefert dann „Deutschland muss sterben“…

Der Gig wird auch durch Elf und Christian was Besonderes, den sie schrammeln nicht nur die Gesangsbegleitung, sondern spielen die Song energisch und wenn Elf zu einem Solo ansetzt, jagt er den Sound durch einen Verzerrer oder Effekt oder was-auch-immer und so bekommt der Akustik-Sound eine völlig neue Dimension. Was Christian spielt ist ebenfalls großartig, denn das Spiel setzt zu Elfs Rhythmus deutliche Akzente und hebt damit das Trio deutlich über den Durchschnitts-Akustikklampfen-Gig hinaus. Alle die vorher Zweifel hatten oder nicht wussten, ob SLIME mit zwei akustischen Gitarren funktioniert sind nun hellauf begeistert. Und zwar zu recht. Das war eine extrem gelungene Überraschung und wenn die Band keinen Bock mehr auf Gitarrenwände und 120 Dezibel hat, kann man ja umsatteln. Respekt, meine Herren!

Bonustrack

Zum Schluss darf Daniel noch einmal ran und nachdem jeder der Musiker bereits im Hauptteil porträtiert wurde, ist nun Dirk dran. Offen gesagt dachte ich schon, dass man ihn vielleicht nicht thematisiert, denn was Daniel in seinem Buch über Dirk schreibt, ist an Ehrlichkeit kaum zu überbieten. Aber Dirk steht zu seinem Leben und es ist nunmal so, dass er kein zwingend gutes Verhältnis zum Geld hat und irgendwie auch mal vergessen hat, Steuern zu zahlen. Diese Vergesslichkeit hat ihn zum Taxifahrer werden lassen, der z.B. Bela B. und seine Kumpels durch die Gegend chauffieren musste… Ehrliche Menschen sind immer sympathisch, auch wenn das, was sie sagen, nicht immer unseren Gesellschafts-Wohlfühl-Charakter bedient, sondern auch mal wehtut.

Dass die Band Spaß hatte (vom kleinen Durchhänger zu Beginn des Interviews abgesehen), konnte man sehen und manifestiert sich darin, dass sie nach dem Auftritt unter die Leute mischt, signiert und schwatzt, was das Zeug hält. Und die Geschichte, wie wir Dirk vor einer unangenehmen Laberbacke gerettet haben, erzähle ich euch ein anderes Mal!

Ich habe nicht alles genannt, aufgezählt oder erwähnt, was an Themen an diesem Abend angesprochen oder vorgetragen wurde, denn ich würde euch wärmstens ans Herz legen, das hervorragend geschriebene Buch beim Buchhändler eures Vertrauens zuzulegen und einige vergnügliche Stunden damit zu verbringen.

Wir bedanken und ganz herzlich bei Elf, Dirk, Christian von SLIME und Daniel Ryser. Es war uns ein Fest, bei diesem Event dabei zu sein und euch kennengelernt zu haben. Ach ja, Daniel: vielen Dank für das Foto! (chris)

Weblinks:
SLIME
das Tourtagebuch von Daniel Ryser
Heyne Hardcore
Musa