ROME
„Hegemonikon“
(Synthie-Pop)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 25.11.2022
Label: Trisol Music Group
Mit dem neuen Album vollzieht Jerome Reuter den radikalsten Stilwechsel in der Geschichte von ROME: Bislang war Reuters Musikprojekt überwiegend vom Folk geprägt, doch auf „Hegemonikon“ befindet sich kein einziger Folksong. Gitarrenklänge sind nur noch ein Randphänomen. Zudem: So elektronisch und poppig klang ROME noch nie. Tatsächlich besteht das neue Material vor allem aus Synthie-Pop. Das ist eine große Überraschung, denn bei ROME hat dieses Genre bisher keine Rolle gespielt. „Hegemonikon“ bietet aber auch eine gewisse Kontinuität: Es gibt Tracks, die dem Dark Ambient zuzuordnen sind. Dieser Stil war schon immer ein Element der Klangkunst Reuters.
„Hegemonikon“ ist eher dem Breitwandsound als dem Minimalismus verpflichtet. Das ist sicher auch ein Grund, warum Reuters Stimme im Vergleich zu anderen Alben weniger dominant wirkt. Gleichwohl kommt seine charakteristische Stimme gut zur Geltung. Reuter verwendet fast nur die englische Sprache, nur selten greift er zu einigen deutschen Worten. Zumeist kommen typische Stilmittel des Synthie-Pop zum Einsatz: Die Musik ist sehr melodisch und eingängig. Die Strukturen sind kompakt, die Refrains werden zügig angesteuert. Die Songs sind im Mid-Tempo-Bereich beheimatet.
Man benötigt keine Kristallkugel, um vorherzusagen, dass Reuters Stilwechsel bei den Fans nicht nur auf Sympathien stoßen wird. Bekanntlich gefällt nicht jedem Gitarrenmusik-Liebhaber auch Synthie-Pop. Für mich ist der Stilwechsel keine große Herausforderung: Ich habe schon immer gerne Synthie-Pop gehört, mitunter begeistert mich das Genre sogar richtig.
Die Stücke im Einzelnen: „A Slaughter Of Crows“ bietet epische Elektroklänge. Anfangs wird mit der Klangfarbe von Streichern agiert. Der Opener klingt wuchtig, er erzeugt eine dramatische und tragische Atmosphäre. Das Tempo ist schleppend, die Rhythmik tönt martialisch. Auf Gesang wird verzichtet, dafür ertönt eine tiefe männliche Erzählstimme. Die Stimme hat einen beschwörenden Charakter, der Vortrag erinnert an eine Predigt. Die „Predigt“ wird allerdings nicht von Reuter gehalten – erst am Ende spricht er einige eindringliche Worte, die er wie ein Mantra wiederholt. Der Track baut eine tolle Spannung auf, die Sogwirkung ist beachtlich. Die Musik klingt wie der Soundtrack zu einem Film.
„No Second Troy“ bietet Synthie-Pop vom Feinsten: Der Song ist sehr eingängig, ein regelrechter Ohrwurm. Obwohl das Klangbild sehr elektro-lastig ist, gibt es auch Gitarrenlaute zu hören. Das Lied hat eine markante Rhythmik, man kann sie als verführerisch, lässig und groovy bezeichnen. Die Instrumentierung ist nicht besonders großflächig und wuchtig, so kommt Reuters Gesang sehr gut zur Geltung. Zum Schluss wird die Melodie nur instrumental präsentiert, dabei erinnert die Klangfarbe an hohen Frauengesang. Das Lied bewegt sich durchgängig im Mid-Tempo-Bereich.
„Icarus Rex“ ist ein faszinierendes Dark-Ambient-Gebilde. Reuters beschwörende Sprechstimme dominiert die Szenerie. Die Klangkulisse besteht vor allem aus unruhigen, wabernden, pulsierenden und brummenden Geräuschen, nur gelegentlich gibt es melodische Töne zu hören. Das Tempo ist langsam. Durch den eindringlichen Vortrag Reuters und die dunkle Klangkulisse entsteht eine spannende und bedrohliche Atmosphäre.
Der Synthie-Pop-Song „Surely Ash“ erzeugt eine intensive melancholische Stimmung. Dazu passt, dass die Rhythmik nicht sehr quirlig ist. Besonders während der Strophen wirkt das Lied sehr hypnotisch. Neben Reuters Gesang sind dafür vor allem die melodischen Elektroklänge verantwortlich. Sie bestehen aus markanten Tonfolgen, die ständig auf- und absteigen. Der eingängige Song ist im mittleren Geschwindigkeitsbereich angesiedelt. Das rundum schöne Soundgewand bietet im Randbereich auch Gitarrenlaute.
Der Dark-Ambient-Track „On The Slopes Of Mount Malamatiyah“ dauert nur 87 Sekunden. Reuter spricht zurückhaltend, er flüstert fast. Seine Stimme klingt geheimnisvoll. Im Hintergrund hört man elektronische Geräusche, die aus Brummen und Summen bestehen. Eine Melodie ist nicht erkennbar. Das Stück wirkt wie ein Intro für den nächsten Song, wobei der Übergang fließend ist.
Nach dem Übergang ist die Klangwunderwelt von „Walking The Atlal“ erreicht: Der Song verbreitet eine bezaubernde Stimmung – Glücks- und Geborgenheitsgefühle offenbaren sich. Die elektronischen Klänge klingen warm, weich und harmonisch, sie erinnern an Harfenlaute. Eine schlichte Tonfolge, die während des ganzen Stücks aufrechterhalten wird, sorgt für eine hypnotische Wirkung. Das Lied hat ein langsames Tempo und es wirkt sehr meditativ. Reuters wunderschöner Gesang klingt bedächtig, gefühlvoll und feierlich. Am Ende singt Reuter mit gesteigerter Leidenschaft, er scheint von einem besonders starken Gefühl der Glückseligkeit ergriffen zu sein. „Walking The Atlal“ ist ein großartiger Song – es gibt nur ein Lied auf dem Album, das noch besser ist.
„Hearts Mend“ bietet ein packendes und mitreißendes Klangerlebnis. Der Song ist sehr eingängig und melodisch, die Instrumentierung ist wuchtig. Der pathetische Refrain wird überaus schnell angesteuert. Kein anderes Lied auf „Hegemonikon“ besitzt einen so starken Ohrwurmcharakter. Es geht sehr elektronisch zur Sache, Gitarrenklänge sind nicht erkennbar. Es wird ausschließlich im Mid-Tempo-Bereich agiert. „Hearts Mend“ ist für mich der drittbeste Song des Albums.
Die Klangcollage „The Ripping Of The Veil“ ist nur 38 Sekunden lang. Es gibt einige dezente Geräusche zu hören. Dazu spricht Reuter mit bedächtiger Stimme. Unter anderem sagt er die Worte „nothing remains“.
Bei „Solar Caesar“ wird eine sehr melancholische Atmosphäre gezaubert. Bei den Strophen ist das Tempo eher schleppend, doch beim Refrain wird die Geschwindigkeit gesteigert. Über den Mid-Tempo-Bereich gelangt aber auch dieses Lied nicht hinaus. Die Instrumentierung ist sehr ausgewogen. Im Randbereich der elektronischen Darbietung ist mitunter auch die Klangfarbe einer Gitarre vernehmbar. Besonders gegen Ende des Songs singt Reuter einige Worte auf Deutsch. „Du wirst nie anders sein“ heißt es dort. Auch „Solar Caesar“ ist ein sehr hörenswerter Synthie-Pop-Song.
„Stone Of Light – Mer De Glace“ kann man dem Dark Ambient zuordnen, besonders dunkel ist die Aura des Tracks jedoch nicht. Das Stück klingt sehr feierlich, das Tempo ist langsam. Reuter spricht sehr beseelt, bedächtig und eindringlich. Dies geschieht vor einer orchestral anmutenden Klangkulisse, die ebenfalls bedächtig gestaltet ist. Ein wohltuendes Hörerlebnis, das meditativ wirkt.
Bei „New Flags“, dem Abschlusssong des Albums, hört man anfangs nur Meeresrauschen und Möwengeschrei. Kurz darauf ertönen warme und melodische Elektroklänge. Schon bald werden diese Klänge von Reuters wunderschönem und hingebungsvollem Gesang begleitet. Das Tempo ist zunächst schleppend, ab der zweiten Hälfte bewegt man sich im mittleren Geschwindigkeitsbereich. Es wird eine herrlich betörende und sehnsuchtsvolle Atmosphäre entfaltet. Diese faszinierende Atmosphäre wird kontinuierlich intensiviert, auch deshalb verdient die dramaturgische Qualität von „New Flags“ zweifellos das Prädikat grandios. Im Vergleich zu den anderen Liedern wirkt der Song eher komplex strukturiert, dennoch ist er sehr eingängig, er verströmt reichlich Pop-Appeal. Auch dieser Ohrwurm besteht vor allem aus elektronischen Klängen, von Gitarrenlauten ist fast nichts zu hören. Beim Refrain singt Reuter teilweise auf Deutsch. „New Flags“ ist der stärkste Song des Albums, besser kann Synthie-Pop nicht klingen!
Und welche Bedeutung hat der Titel des Albums? Das „Hegemonikon“ ist laut Wikipedia der wichtigste Teil der Seele des Menschen. Nach den antiken Stoikern leitet und koordiniert das „Hegemonikon“ das menschliche Seelenleben.
Fazit: Jerome Reuters neues Album „Hegemonikon“ markiert den bislang heftigsten Stilwechsel in der Geschichte von ROME. So elektronisch und poppig klang Reuters Musikprojekt noch nie. Bisher spielte Synthie-Pop bei ROME keine Rolle, doch das neue Album beinhaltet vor allem Musik dieses Genres. Reuters Schaffenskraft ist auch in diesem Genre beeindruckend, denn „Hegemonikon“ bietet durchgängig sehr hochwertige Klangkunst. Wer Synthie-Pop liebt, wird auch dieses Album lieben! Auch mit „Hegemonikon“ beweist Reuter, dass ROME zu den spannendsten Musikprojekten unserer Zeit gehört. Es ist gut vorstellbar, dass zukünftig noch andere wundervolle Stilwechsel stattfinden werden. Mal sehen, wann das erste Metal-Album erscheint. Ein Weltmusik-Album liegt ebenfalls im Bereich des Möglichen, denn Reuters Kreativität scheint grenzenlos zu sein. Weiter so! (stefan)
Der Song „No Second Troy“ bei YouTube: