INTERVIEW, TOP THEMA

REPTYLE :: Rebellisch gruseln

Mit dem 2021er „Decrypt The Void“ hatte die Bielefelder Goth Rock Institution REPTYLE ihren Schaffensgipfelpunkt erreicht. Wenn andere ihr Höhenlager mit letzten Feierstunden abbrechen und langsam den Abstieg vorbereiten, hat REPTYLE mit dem aktuellen Werk „Blazed Shades & Thorned Veils“ einfach mal beschlossen, noch eine kleine Ewigkeit hier zu verweilen. Seit mittlerweile 26 Jahren bringt die Formation in mehr oder minder größeren Abständen wunderschöne Alben heraus. Dabei entstanden kleine Clubhits, durchdringende Klangkosmen, ein atmosphärisch dichtes Geflecht aus Melancholie, Energie und verführerischen Melodien, deren Heimat des Öfteren die 80er waren. Ihr aktuelles Werk ist erneut ein Meilenstein der düsteren Verführung. Bleibt nur, den sympathischen Bielefeldern zu gratulieren und der imaginäre Hut ist eh gezogen. Viel Spaß mit den Fragen und den Antworten von Sänger Kai und Gitarrist Keule. (andreas)

Hier geht’s zum Review von „Blazed Shades & Thorned Veils“

 

Ihr habt euer 2021er Album als bis dahin bestes bezeichnet. Auch von Kritikern und Fans wurde es hochgelobt. War es diesmal besonders schwierig einen würdigen Nachfolger zu kreieren?
Keule:
Nachdem „Decrypt the Void“ erschienen ist, hatte ich persönlich zunächst wahrhaftig Zweifel, ob wir dieses Niveau noch einmal erreichen können. Die Arbeit an den ersten neuen Songs verlief auch etwas holprig, deshalb war ich am Anfang ziemlich skeptisch. Aber je tiefer wir eingestiegen sind und je konsequenter wir das neue Material vorangetrieben haben, desto mehr hat sich dieses Gefühl verändert – ich hatte zunehmend den Eindruck, dass etwas wirklich Starkes und in sich Geschlossenes entsteht. Jetzt, wo alles fertig ist, denke ich tatsächlich, dass „Blazed Shades & Thorned Veils“ sogar „Decrypt the Void“ übertrifft. Aber gut, das sagt vermutlich jede Band über ihr neuestes Album, oder???

 

Bands wollen sich ja grundsätzlich weiterentwickeln, egal ob sie ihren Höhepunkt erreicht haben oder nicht. Wo seht ihr eine Weiterentwicklung?
Kai:
Weiterentwicklung würde ich das vielleicht nicht nennen. Eher ein Ausbauen und Verbessern der eigenen Fähigkeiten und Stärken, um unsere Musik nach unserem Geschmack noch intensiver zu gestalten.

 

Bei der Zusammenstellung der Songs und deren Reihenfolge: Achtet ihr dabei auf die Hörgewohnheiten eurer Fans oder wie kann man sich die Findung der besten Reihenfolge vorstellen. Hat hier eine Vinyl VÖ ein besonderes Vorgehen inne, da hier ja quasi zweimal ein Anfang existiert?
Kai:
Ein Album muss eine gewisse Dramaturgie aufweisen und ein guter Fluss der Klänge sollte entstehen. Gerade ein gewisser „Knall“ am Anfang ist ein guter Auftakt eines Albums. Da spielen eigentlich unsere eigenen Hörgewohnheiten als Musik-Fans die größte Rolle.

 

Ist es Zufall oder Absicht, dass beide Alben im November veröffentlicht wurden. Wie viel Herbstmelancholie soll der Hörer bekommen?
Kai:
Es ist tatsächlich reiner Zufall. Die Musik ist der Begleiter, um gestärkt und unbeschadet ganzjährig durch melancholische Phasen zu kommen.

 

Das Label „Gothic Rock“ ist ein ungeschütztes Etikett, dessen Schwindel dennoch schnell an die Oberfläche dringt. Ihr gehört zu den Bands, die immer als Beispiel für eine Genrebeschreibung herhalten könnten. Wie seht ihr selber das Genre, die Szene und die Entwicklung?
Kai:
Gothic ist ja mittlerweile eher ein Modebegriff, statt der Beschreibung einer Musikrichtung. Jeder ist als Künstler frei, düstere Tonkunst nach seiner Art zu erschaffen. Sei es mit Gitarre oder eher elektronisch. Wenn die Musik unter dem Etikett „Gothic“ aber eher nach Rave oder Schlager klingt, hört die Toleranz auf. Dieses gewisse Flair, das man als Fan düsterer Musik liebt, sollte schon vorhanden sein.

Bei euch ist es ja so, dass zuerst das musikalische Gerüst steht. Seid ihr manchmal überrascht, zu welchen Texten die Musik inspiriert?
Kai:
Mich als Sänger überrascht es auch immer wieder, welche Ideen durch bestimmte Melodien oder Songstrukturen in meinem Kopf entstehen. Dann entsteht die Gesangsmelodie und aus der Gesamt-Atmosphäre des Songs bildet sich dann die lyrische Grundthematik.

 

Wie kam es denn dazu, dass euer Gründungsmitglied „Kufi“ zurückgekommen ist und wieder die Tasten bedient?
Keule:
Eigentlich war Kufi nie richtig weg – wir haben alle Alben in seinem Studio aufgenommen, und er war als Engineer immer mit dabei. Dadurch hatte er auch bei den Platten, auf denen er offiziell gar nicht im Line-Up stand, großen Einfluss auf den typischen Reptyle-Sound. Dann hat es ihn irgendwann wieder in den Fingern gejuckt, und schon hat er seinen alten Platz wieder eingenommen.

 

Hat sich dadurch das Songwriting verändert?
Keule:
Nein – abgesehen davon, dass Kufi auch zwei hervorragende Songs zum neuen Album beigesteuert hat.

 

Kai, wer oder was inspiriert dich zu deinen Texten?
Kai:
Genau festlegen kann ich das nicht. Das sind Bücher, Geschichten und Gedichte (Lovecraft bis Byron). Prägend sind auch Aufenthalte in der Natur. Da ich ein lebendes Klischee bin 🙂 , bin ich auch gerne auf Friedhöfen unterwegs. Praktisch, dass ich direkt neben einem sehr schönen Friedhof wohne. Die Ruhe dort fördert meine Kreativität sehr. Natürlich hat auch unterschwellig die Musik, die ich bevorzuge, einen Einfluss auf mich.

 

Das letzte Album beschäftigte sich mit der Entschlüsselung der Leere, diesmal geht es um den Widerstand gegen vorgefertigte Normen im philosophischen Sinne. Würdest du in diesem Zusammenhang von Konzept-Alben sprechen, beziehungsweise: Wie wichtig ist der „rote Faden“?
Kai:
Die Lieder des Vorgänger-Albums „Decrypt the Void“ hatten alle ein eigenes Thema. Aufgrund seiner Dramaturgie und Emotionalität wurde das Lied „Decrypt the Void“ Namensgeber für das Album. Das aktuelle Album hat einen roten Faden, der aber sehr lose ist. Er betrachtet eher die unterschiedlichen Arten der Rebellion. Sei es gegen alle möglichen Autoritäten oder durch Vorgelebtes geprägte Verhaltensweisen, die man aus seinem Inneren entfernen muss, um „spirituell „zu wachsen.

 

Eine tragische Geschichte scheint hinter „Gallow Watcher“ zu stecken oder ist es eher eine altertümliche Gruselgeschichte mit ein wenig Augenzwinkern?
Kai:
Es ist eher eine tragische Gruselgeschichte über eine Person, die nur Liebe empfindet, wenn sie dem Vorgang der Exekution durch den Strang beiwohnt. Das Gefühl der Liebe endet mit dem Begräbnis des Hingerichteten. Daher muss die besagte Person immer wieder das Gefühl der Liebe durch die Betrachtung des eintretenden Todes reproduzieren.

 

Gibt es einen Song oder Text, der ganz besonders die literarische Ausdruckskraft des Albums beschreibt?
Kai:
Gerade der Opener des Albums bringt mit dem der Textzeile „Never bow to anyone“ die Kernaussage sehr gut auf den Punkt.

 

Auf der Bonus CD habt ihr „The Church“ mit dem Song „Reptile“ gecovert. Schwelte die Idee schon länger in euren Köpfen?
Keule:
Dazu gibt es eine lustige Anekdote. Vor bestimmt über 20 Jahren stand ich irgendwo in der Schlange beim WGT und habe dort einen Bekannten – Philipp Strobel von aufnahme+wiedergabe – getroffen. Wir haben ein bisschen geplaudert und er fragte, ob unser Bandname etwas mit dem gleichnamigen Song von The Church zu tun habe. Ich konnte nur mit den Schultern zucken, weil mir der Songtitel damals gar nichts sagte. Zuhause habe ich dann festgestellt, dass ich die dazugehörige LP natürlich im Regal stehen hatte. Ich habe mir den Song angehört und kannte ihn natürlich – und fand ihn auch super – ich hatte nur nie auf den Titel geachtet. Man muss berücksichtigen, dass ich die LP lange vor der Bandgründung gekauft habe.
Vor ein paar Jahren habe ich „Reptile“ dann mal wieder in einer Disco gehört, und nach ein paar Bieren kam die Idee auf, ihn endlich mal zu covern.

Zudem gibt es mit „Anyway Grateful“ eine neue Version eures ersten Songs. Wie war das Gefühl, sich mal wieder intensiv mit diesem Song zu beschäftigen?
Kai:
Es war spannend, einen Song aus „Demo-Tagen“ neu zu betrachten. Der Song hat in seiner ursprünglichen Form einen besonderen Charme, der natürlich erhalten bleiben sollte. Da er auch immer wieder seinen Platz in der Setlist findet, verdiente er aber eine klangtechnische Auffrischung.

 

Das letzte Interview endete mit der Vorfreude auf das Konzert mit Fields of The Nephilim, welches dann verschoben wurde. Mittlerweile wurde es endgültig gecancelt. Wie tief sitzt die Enttäuschung noch?
Keule:
Über Dinge, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, lohnt es sich nicht, sich zu lange aufzuregen

 

Wie sieht es demnächst mit Touraktivitäten aus. Ist mal wieder eine Headliner Tour geplant?
Keule:
Gerade stecken wir mitten in der Planung für ein Release-Konzert in Bielefeld. Darüber hinaus sind wir grundsätzlich für vieles offen und freuen uns immer über Konzertanfragen – mal schauen, was sich daraus entwickelt.