EMPFEHLUNG, REVIEW

NEAR EARTH ORBIT „M.A.S.S. Extinction“ & „Back Catalogue“ (Ambient Goth Rock)

NEAR EARTH ORBIT

„M.A.S.S. Extinction“ & „Back Catalogue“
(Ambient Goth Rock)

Wertung: Empfehlung!

VÖ: 24.04.2020

Label: Solar Lodge

Webseite: Facebook

Mittlerweile bereits die sechste Veröffentlichung der Formation von Artaud Seth (Garden of Delight, Merciful Nuns) und Ashley Dayour (Whispers in the Shadow). NEO ist die Essenz einer Dystopie, die wir Menschen selber heraufbeschworen haben. Künstliche Intelligenz, Erderwärmung, Klimawandel, Nukleare Bedrohungen, Ressourcenknappheit und Überbevölkerung fließen in ein fiktives Weltuntergangszenario. Bevor wir zum aktuellen Werk kommen, lassen wir die vergangenen fünf Jahre mal Revue passieren:

2015 begann das Endzeit-Epos von Near Earth Orbit mit dem prägenden Titel „End of All Existence“. Während musikalisch eine einzigartige Verschmelzung von Ambient, Elektronik und Goth Rock vorliegt, geht es in diesem tiefsinnigen, zwischen alter Philosophie, Mystizismus und Science Fiction beheimateten dystopischen Gesamtkunstwerk um das Ende der Menschheit, welches damals bereits fest datiert wurde – der 16.März 2034.

Im gleichen Jahr folgte „Trans Neptunian Objects“ welches dort ansetzte, wo „End Of All Existence“ in der Sekunde der hereinbrechenden Apokalypse aufgehört hat: Auf dem Jupiter Mond Io. Das Album erzählt uns warum die E.D.E.N. Mission dort abgesetzt wurde und wie sie dort hingekommen sind, was es mit der Einstein-Rosen-Bridge auf sich hat und welche Rolle ein tief im Wüstensand vergrabenes prähumanistisches Gerät dabei spielt.

Ein Jahr später folgte „Mission E.D.E.N.“, welches thematisch eher zwischen den beiden vorherigen Werken angesiedelt ist. Erneut vermengt das Album verschiedenste Stile der dunklen Musik zu einem bedrohlichem Intermezzo, welches mit Vehemenz eine phobische Stimmung erzeugt, dennoch mit gothrockigen Saiten und latent psychedelischen Soundscapes überzeugt.

Das 2017 erstmals veröffentlichte Werk A.T.O.M. kommt ebenso wie das Debüt „End of All Existence“ 2020 komplett u¨berarbeitet, neu gemischt, teilweise neu eingespielt und eingepackt in einem edlen DigisleeveBOOK daher. A.T.O.M. ist trotz teilweiser Ausbrüche eher ein ruhiges Werk, voller verschachtelter Klanggebilde. Artaud mimt erneut den perfekten Erzähler, wandelt geschickt über die bedrückenden Soundgebilde. Musikalisch ergibt sich eine Ambivalenz zwischen harten Strukturen (Riffs) und sanftmütigen Klängen (Klavierpassagen). So erklingt „Nine Billion Names of God“ brachial und ungezügelt, während z.B „Lucifer Rising“ eher in Ruhe thronend in Gehörgänge tröpfelt. Nicht nur die psychedelischen Flächen, sondern auch die feinsinnigen bis bedrückenden Texte lassen ein Film im Kopf entstehen, der zum klaustrophobischen Alptraum mutiert.

Im letzten Jahr erschien „Artificial Intelligence“, welches nicht nur mit dem destruktiven Opener alles nieder zu walzend schien. Dazu das wütende „Neuromancer“. Hinzu kommen immer wieder diese durchdringenden, sphärischen soundtrackartigen Extravaganzen, welche direkt Vergleiche zur Filmmusik von „Das Boot“ aufkommen lassen. Und mit klangstabiler Melancholie befriedigt man auch die (Sozial)Romantiker mit harmonischen Soundstrukturen, welche ruhig und nur selten verstörend in die Gehörgänge tröpfeln. „I.R.I.S. Unveiled“ ist so ein im Mark eher ruhiger Song, der dann mit Roboter Backings überrascht und im Vordergrund Artaud erzählen lässt. Ähnlich, aber etwas bedrohlicher schleicht sich „Singularity“ heran. Eine verworrene Klanglandschaft, welche unterschwellig die Aggressivität lodern lässt. Die Lunte hält NEO dann hier und dort mal dran und lässt es sich explosiv gut gehen, bei der Beschreibung menschlicher Unzulänglichkeiten.

Nun also das neue Werk, die Beschreibung des Massenaussterbens. Die Gesamtatmosphäre nimmt an Bedrohlichkeit zu. Genial wie die facettenreichen Soundtrack- Versätze in ein harmonisches Gesamtbild gepresst werden. Dazu der (teils) wütende Düstergesang, der Stempel ist und doch dem Gesamtkunstwerk eine wilde Robustheit verleiht, welche in dem tiefmelancholischen und balladesken „Anthropocene ends“ aber auch mal äußert zerbrechlich und von Traurigkeit getragen daherkommt.

Während der Opener „Population Overload“ sich im Dark Industrial/Ambient eine Heimat sucht, dürfte man „moon rush“ ein bisschen im EBM der 80er verordnen. Ein Song der in einer wütenden Orgie endet. Die Katastrophe ist nah. Das folgende (windige) „Ecotopia“ beginnt sehr kühl, die Steigerung ist galant und verführerisch und beherbergt einen tanzbaren Untergrund. „Critical Mass“ ist von der Energie her das härteste Stück. Sprachsamples, tickende Uhr und alptraumhafte (unterschwellige) Atmosphäre.

Fazit: Hör mit Schmerzen, denk mit Schmerzen, verlier dich, denk dich, denk das Du, das Wir, das Alles und denk das Ende und denk deine Schuld. Ein bedrückender Moloch, der sich in musikalisch düsterer Breite ergießt. Kein Ton, kein Satz, kein Wort geht fehl im Gesamtkosmos. NEO erschafft eine Welt irgendwie zwischen Verne, Bowie, Roddenberry, Kubrick und Johannes Offenbarung. Ein epochales Werk, musikalisch wie textlich mit nichts und Niemanden vergleichbar. Einzigartig. (andreas)