ADVERSUS
„Strafgericht – Zehn letzte Todsünden“
(Dark Musical/ Neo Klassik/ Wave/ NDH)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 08.12.2023
Label: Kernkraftritter Records
Webseite: Facebook / Homepage / Wikipedia
Lange Zeit war es ruhig um die Band von Mastermind Torsten ‚Rosendorn‘ Schneyer, seines Zeichens Musiker, Künstler, Autor, historischer Fechter usw.. 2010 erschien mit „Der Zeit abhanden“ die letzte VÖ. Das nun vorliegende, neue Werk sollte bereits 2013 erscheinen und wurde mit Ausschnitten damals schon auf der Homepage präsentiert. Nun, zehn Jahre später, ist es vollbracht: „Strafgericht – Zehn letzte Todsünden“ erblickt als Konzeptalbum das Licht der Öffentlichkeit.
Der düstere Opener „Anklage“ lüftet dann das Geheimnis, wer auf der Anklagebank in diesen fiktiven, philosophisch geführten Strafprozess platz nehmen muss und welche letzten Todsünden ihm vorgeworfen werden. Mit „Glauben heißt nicht wissen“ kommen wir zum ersten Anklagepunkt. Es geht um die Scharlatanerie von Astrologen, Wunderheilern und Päpsten, die auch heute noch den Glauben an Wunder und höhere Wesen wider besseres Wissens ausnutzen. Die opulente Ausstaffierung der Musik wird mal mit Liebreiz dargeboten, mal werden Saiten und Schlagwerk zum bedrohlichen Gewittergrollen mit reichlich Tempo. Gesanglich gibt es neben Torstens Mischung aus wildem kinskiesken Sprachgesang und an Oswald Henke erinnernden Klagegesang sowie feine Gesangseinlagen, welche mit Sopranstimme dargeboten werden. Die Beliebigkeit wird folgend verhandelt. Profillosigkeit, fehlendes Rückgrat und das sich verbiegen lassen, alles kommt auf dem Tisch. „Dummheit ist (un)heilbar“ beschäftigt sich natürlich mit der mangelhaften Fähigkeit, aus Wahrnehmungen angemessene Schlüsse zu ziehen beziehungsweise zu lernen. Das umklammerte ‚un‘ und der letzte Satz im Text lassen diesmal aber auch einen leichten Hoffnungsschimmer scheinen. Musikalisch geht es ein wenig in Richtung MA-Folk und lässt neben druckvollen Passagen auch mal ruhige Momente zu, welche dann als perfekte, latent verträumte Untermalung der Erzählung dienen. Gelungen auch die, wahlweise als Duett, wahlweise als Duell erklingende Verschmelzung der unterschiedlichen Stimmbandakrobatiken.
Eine fast schunkelnde Einleitung mit Akkordeon führt uns zum Anklagepunkt 4 (der Selbstgerechtigkeit). Zwischendrin dann wieder dieser ungeordnet scheinende Wall of Sound. Textlich gibt es Anspielungen ans Sandmännchen oder leicht abgewandelt an Schillers „an die Freude“. Das Los der Feigheit beginnt mit und beherbergt teilweise kalttanzbare Erinnerungen an die EBM der 80er. Dazwischen reduzierte Instrumentierung mit klarem Blick auf den kristallinen, weiblichen Gesang und natürlich lädt auch der Torsten mit seiner wilden rauen Stimme zum Duett ein. Ein progressives Saitensolo vervollständigt den Song. Als nächstes setzt man sich mit Ignoranz auseinander. Wie der Titel („Meer aus Ignoranz“) und auch das Möwengeschrei erkennen lässt, gibt es allerlei maritime Anspielungen. Musikalisch ist es erneut ein wildes Intermezzo aus Saiten, Violine, Kontrabass, Elektronik und irgendwann spielt Hein so schön auf dem Schifferklavier. Nach der Unästhetik („der Unästhetik hübsch‘ Gesicht“), wo die Exegese ein wenig schwerfällt, da man Selbstbewusstsein, Selbstzweifel oder Selbstironie erkennen könnte, beschäftigt man sich in „Miss Achtung“ mit dem nächsten Vorwurf. Balladesk und mit eingängigen Klavierpassagen versehen, ist die Instrumentierung für Adversus-Verhältnisse sehr dezent. Ein ruhiges, schönes Kleinod, dessen tragische Gestalt sich langsam entblättert. Dann wird es wieder roh, wild und ungezügelt, samt psychopathischen Gesängen. Auch die Engherzigkeit („dein enges Herz“) kann sich der Anklage nicht entziehen und wird mit reichlich Tempo und bedrohlicher Inszenierung dem Richter zum Fraß vorgeworfen, Herztöne liefern latente Ruhepole, bevor auch diese dem Treiben mit tachykarden Vorhofflimmern huldigen und nach einen Schrittmacher lechzen und doch zum Ende nur die Nulllinie erreichen. Als letztes wird die Stagnation („Stagnation heißt Tod“) vor den Richter geführt. Musikalisch regieren hier dann wieder betörende Tonkünste mit orchestralen Klangstrukturen die Szenerie, das Ganze von Traurigkeit und phobischer Schwermut getragen. Ein wunderschöner, mit reichlich schwarzer Galle gefülltes Ende der Anklage.
Zum Schluss wird dann das Urteil gesprochen, welches durchaus überraschend ausfällt (mehr wird hier nicht verraten).
Fazit: Die Neubauten prägten einmal den Satz: „Hör mit Schmerzen“. Ich würde hier das auditive Erlebnis als „Hör mit Stress“ bezeichnen. Bereits textlich ist es keine gemütliche Reise durch die Irrungen und Wirrungen des Menschen (bzw. der Menschheit). Die in ihrer Variabilität und Opulenz einzigartig dargebotene musikalische Komponente ist ein Stilmix verschiedenster düsterer Klänge (NDT, NDH, Dark Wave, Dark Metal), welche mit (Neo-)Klassik, Musical und Oper zu verschmelzen scheinen. Meist gibt es diesen Stilmix innerhalb eines Songs, auch die Ambivalenz zwischen laut/leise, schnell/langsam, betörend/schneidend oder romantisch/grobschlächtig ist den Stücken immanent. Wenn man sich der lyrischen Form der Texte widmet, ist es eine Melange aus nietzscheanischen Aphorismen, Weimarer Klassik, Kurzgedichten, Sprichwörtern, Prosa, Poesie, Essais, Phrasen, Kinderreimen oder Limerick. Die detaillierte und liebevolle Zusammenfügung der einzelnen Teile zum großen Ganzen, welches tiefgründig und voller anekdotischer Eleganz dem Realismus einen Spiegel vorhält, ist des Hörers Grundgerüst zur Reflexion. (andreas)
Die CD erscheint im DVD Digipack mit einem 20seitigen Booklet samt Erklärungen und sämtlichen Texten und soll auf 250 (!) Stück limitiert sein.
Warnung des Labels: „Wer Adversus schon immer eine Spur drüber fand, wird auch Strafgericht hassen“, wie z.B. der Rock Hard-Redakteur mit einem lustig-folkloristischen Verriss.