NEW MODEL ARMY
„Winter“
(Independent Rock)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 26.08.2016
Label: earMusik
Webseite: Homepage
Zwei Jahre nach der letzten Veröffentlichung „Between Wine And Blood“ ist NEW MODEL ARMY mit einem neuen Longplayer am Start. Gleich beim ersten Lied überzeugt „Winter“ auf ganzer Linie: „Beginning“ ist ein fast sieben Minuten langes Klangungetüm, das seine Kraft langsam, aber gewaltig entfaltet. Der Song lebt zunächst nur von Justin Sullivans beschwörender Stimme und einer bedrohlich wühlenden Bassgitarre. Dann setzt eine wuchtige, immer intensiver werdende Schlagzeugrhythmik ein, wodurch die Dramatik beharrlich gesteigert wird. Im Mittelteil sorgen Klavierklänge und grell sägende Gitarrenlaute für reichlich Atmosphäre. Das Stück gipfelt in einer vielschichtigen, packenden Sounderuption, wobei beim Tempo auch hier eher schleppend agiert wird.
Beim folgenden „Burn The Castle“ wird etwas mehr Gas gegeben, man verweilt aber auch beim einprägsamen Refrain im mittleren Geschwindigkeitsbereich. Die kompakte, schnörkellose Struktur des rockigen Lieds kontrastiert den epischen Opener perfekt. „Burn The Castle“ ist ein gutes Lied, keine Frage, doch der nächste Track ist besser, denn nun folgt „Winter“, der Titelsong des Albums. Hier gelingt den Musikmagiern von NMA wieder einmal äußerst gekonnt das Kunststück, die besten Elemente einer sanften Akustikballade und eines rockigen Folksong zu einem stimmigen Ganzen zu vereinen. Ganz im Stil von NMA-Klassikern und Gänsehaut-Garanten wie „Green And Grey“ oder „Purity“ gehalten, verzaubert „Winter“ durch eine einmalig gefühlvolle, ergreifende und sehnsuchtsvolle Stimmung – einfach wundervoll! Auch die nächsten zwei Songs – das wuchtige „Part The Waters“ und das psychedelische „Eyes Get Used To The Darkness“ – sind echte Volltreffer.
Und dann geschieht das schier Unfassbare: Die folgenden drei Lieder sind sogar noch besser als alles, was man bisher auf dieser CD gehört hat. Tatsächlich offenbart das Album genau im Mittelteil seine stärksten Klänge. Zunächst das tragisch klingende „Drifts“: Hier wird die Gefühlswelt des Hörers vor allem durch eine schaurig-schön flirrende Geige und Justins markerschütternden Refraingesang aufgewühlt. Dann das packende „Born Feral“ – der genialste Song des Albums! Besonders bei den Strophen singt Justin mit einer Leidenschaft, die unglaublich fasziniert. Begleitet wird er dabei von einem hochgradig stimmungsvollen und rhythmischen Gitarren- und Schlagzeugspiel. So entsteht eine herrlich pulsierende Dynamik, die äußerst hypnotisch wirkt und gleichzeitig voller Spielfreude ist. Und der Refrain: mitreißend, rockig und in bester NMA-Manier sehr hymnisch gestaltet. Das alles ist Klangmagie in höchster Vollendung! Schließlich folgt das sehr berührende „Die Trying“ – ein Song, der in der Tradition der ganz großen Akustikballaden der Band steht. Man fühlt sich gleich an „Better Than Them“, „Family Life“ oder „These Words“ erinnert.
Auch der restliche Teil des Albums weist eine sehr hohe Qualität auf. Dies zeigt sich etwa bei „Echo November“: Mit seinem schnellen Tempo und seinem wilden Bassspiel ist der Track eine tolle Reminiszenz an das Frühwerk der Band. Im Anschluss folgen mit „Weak And Strong“ und „After Something“ die beiden letzten Songs der CD. Im Vergleich zum Rest des Albums verbreiten diese Lieder fast eine lockere und entspannte Stimmung. Nach all den unheilvollen Klängen wirkt die Atmosphäre hier beinahe hoffnungsfroh. Der kunstvoll gewobene Stimmungsbogen des Albums wird in gewisser Weise vollendet.
Die Texte des Albums beschäftigen sich mehrfach auf sehr einfühlsame Weise mit der Notlage von Flüchtlingen. Gut so! Gerade jetzt, wo sich die Seuche des Nationalismus wieder ausbreitet, muss man die Fahne des Humanismus hochhalten!
Fazit: „Winter“ ist ein großartiges Kunstwerk! Sicher: NMA klingt im Jahr 2016 nicht mehr ganz so aggressiv wie in den 1980er Jahren. Doch viel wichtiger ist: „Winter“ ist ein raues und kraftvolles Rockalbum, das mit seinen melancholischen Melodien und düsteren Stimmungsbildern zutiefst berührt. Das Album ist sicher die stärkste Scheibe seit „Carnival“, vielleicht sogar die beste Platte seit „Strange Brotherhood“. Zudem besitzt „Winter“ eine ganz besondere Qualität: Trotz seiner Vielgestaltigkeit ist das Album sehr homogen. Alles passt perfekt zusammen, die Reihenfolge der Songs ist famos, die präsentierte Dramaturgie lässt keine Wünsche offen. Diese besondere Qualität weist kein anderes NMA-Album auf. Es ist wahrlich ganz große Kunst, was Justin Sullivan und seine Mannen hier abliefern! Die unermüdlichen Kämpfer für das Gute, Wahre und Schöne überzeugen voll! Einfach klasse! (stefan)