ROME
„The Lone Furrow“
(Melancholic Folk / Ritual / Dark Ambient)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: 28.08.2020
Label: Trisol Music Group
Webseite: Facebook
Seit jeher sind es vor allem drei Stilelemente, die typisch für ROME sind. Erstens: der melodische Folksong – die pure Harmonie verzaubert unmittelbar. Zweitens: der dunkle Ritualsong – die markante Trommelrhythmik peitscht eindringlich die Seele auf. Drittens: das hypnotisch wirkende Dark-Ambient-Gebilde – der für das Genre typische Verzicht auf gängige Songstrukturen erweitert die Zeit-, Wahrnehmungs- und Reflexionsebene des Hörers.
Bei den meisten ROME-Alben habe ich den Eindruck, dass eines der drei Stilelemente im Mittelpunkt des Geschehens steht. Die übrigen Elemente werden dem zentralen Element untergeordnet. Bei „The Lone Furrow“ habe ich hingegen zum ersten Mal das Gefühl, dass alle drei Stilformen wirklich gleichberechtigt zum Einsatz kommen. Die Zusammenfügung der drei Stile geschieht äußerst harmonisch. Alle drei Genres werden fast nur durch sehr gelungene Kompositionen repräsentiert. Sie gehören sogar nicht selten zum Schönsten, was Jerome Reuter mit seinem Projekt ROME je geschaffen hat! Erwähnenswert ist auch, dass erstmals in der Geschichte von ROME mehrere Gastsänger und Gastsprecher mit von der Partie sind.
Zu den Stücken im Einzelnen: Beim Opener „Masters Of The Earth“ werden Dark-Ambient-Klänge präsentiert. Man fühlt sich schnell in eine andere, sehr bedrohlich wirkende Welt versetzt – trotz des lieblichen Vogelgezwitschers! Eine beschwörend klingende Erzählstimme hält einen Monolog. Aki Cederberg fungiert hier als Sprecher, ein Buchautor aus Finnland. Am Ende drängt sich eine wuchtige Trommelrhythmik immer mehr ins Zentrum des Geschehens – ein perfekter Übergang zum packenden Ritualsong „Tyriat Sig Tyrias“. Es folgt der herrlich spielfreudig und dynamisch klingende Folksong „Ächtung, Baby!“ Neben Jerome Reuter tritt hier Alan Averill von PRIMORDIAL als Sänger in Erscheinung. Kein Zweifel: Das Duett der beiden begnadeten Sänger ist großartig! Der Song gehört sicher zu den Höhepunkten des Albums.
Anschließend gibt es das kurze Dark-Ambient-Stück „Making Enemies In The New Age“ zu hören. Der Track endet, indem eine leidend klingende Männerstimme die misanthropischen Worte „Wo soll man da hinfliehen?! Überall ist der Mensch!“ spricht. Dann folgt „The Angry Cup“ – ein weiterer druckvoller Ritualsong. Jerome Reuter wird hier von Adam Nergal Darski von BEHEMOTH gesanglich unterstützt. Auch weil Darski in der zweiten Hälfte des Songs ein unheilvoll tönendes Mantra auf sehr eindringliche Weise mehrfach wiederholt, hinterlässt er einen starken Eindruck. Mit dem Folksong „The Twain“ heitert sich die Stimmung deutlich auf. Ein wundervoller Song, der auch sehr gut auf das Album „Flowers From Exile“ gepasst hätte.
Die relativ heitere Stimmung wird jedoch schon beim folgenden Stück jäh beendet, denn der Ritualsong „Kali Yuga Über Alles“ verbreitet eine bedrohliche Aura. Auch dieser Song ist nicht schlecht, jedoch gefallen mir die meisten anderen Lieder des Albums besser. Die sich anschließende Klangcollage „The Weight Of Light“ klingt sehr feierlich. Dem Dark-Bereich kann man die Ambient-Klänge nicht zuordnen, denn sie klingen zu hell. Überstrahlt werden die sanften Tonwellen von Reuters energischer Stimme, die hier im Sprechmodus verzaubert. Reuters Vortrag hat Appellcharakter, seine Worte klingen geradezu flehentlich.
Dann folgen in Gestalt von „The Lay Of Iria“ die vier faszinierendsten Minuten des Albums! Stilistisch kann man das Stück am ehesten dem Dark-Ambient-Bereich zuordnen. Eine kurz gehaltene Abfolge zauberhafter Klavierklänge wiederholt sich ständig. Opernartiger Frauengesang geistert im Hintergrund umher. Im Zentrum des Geschehens steht die Sprechstimme Reuters. Seine Stimme klingt sehr bedeutungsvoll, sie berührt zutiefst. Ab der zweiten Hälfte des Stücks ist im Hintergrund auch Gewitterdonner zu hören. Am Ende des magischen Klanggebildes wird Reuter von einem Gastsprecher abgelöst. Reuter hat Englisch gesprochen, Michael V. Wahntraum (HARAKIRI FOR THE SKY) spricht Deutsch. Auch die Stimme Wahntraums klingt sehr bewegend.
Die gesamte Atmosphäre des Stücks ist hochdramatisch. Das Erstaunliche dabei ist, dass keines der Klangelemente besonders druckvoll verwendet wird. Alles wird mit Bedacht zum Einsatz gebracht. Auch beim Tempo wird zurückhaltend agiert. Die Klangfiguren sind eher einfach strukturiert. „The Lay Of Iria“ ist sicher eines der großartigsten ROME-Kunstwerke aller Zeiten! Wegen der Klavierklänge und des dunklen Charakters erinnert es stark an das Frühwerk des Projekts.
Im Anschluss gibt es mit „On Albion`s Plain“ einen schönen Folksong zu hören. Es folgt „Palmyra“ – ein weiteres herausragendes Juwel des Albums! Streichmusikartige Klangschübe zaubern eine märchenhafte Atmosphäre. Schnell wird eine sich ständig wiederholende, kurz gefasste Melodiestruktur erkennbar. Sie und der bald einsetzende Gesang von Reuter bestimmen während des gesamten Lieds die Szenerie. Dazu ertönt im Hintergrund wundervoller Frauengesang von der Gastsängerin Laure Le Prunenec (IGORRR). Das Tempo ist langsam. Auch wegen der sich ständig wiederholenden Klangelemente entfaltet der Song eine sehr hypnotische Wirkung. Stilistisch kann man diesen Geniestreich irgendwo im grenzenlosen Wunderland zwischen den Genres Dark Ambient und Neoklassik verorten. Reuter singt hier nicht auf Englisch, sondern auf Französisch.
„Obsidian“ heißt das vorletzte Lied des Albums. Der Folksong pendelt sehr dynamisch zwischen zwei Stimmungsbildern: einerseits wird eine hoffnungsfrohe Atmosphäre verbreitet, andererseits eine melancholische. Trotz seiner melancholischen Seite ist „Obsidian“ ein sehr mitreißendes Lied. Reuter singt hier auf Deutsch. Das letzte Stück ist ein Dark-Ambient-Track. „A Peak Of One´s Own“ wiederholt vor allem die Klangelemente des Opener, jedoch ist die Stimme des Sprechers nicht die gleiche. Zudem wird ein anderer Text vorgetragen. Dass das letzte Stück an den Opener anknüpft – also ein Kreis geschlossen wird – passt gut zu den textlichen Inhalten des Albums. Denn mehrfach werden Gedanken geäußert, die auf einem zyklischen Zeitverständnis beruhen. Dazu gehört die Vorstellung, dass jede noch so mächtige menschliche Zivilisation letztlich dazu bestimmt ist, irgendwann unterzugehen. Es herrscht ein kosmologisches Gesetz. Demzufolge müssen sich sogar die mächtigsten Phänomene einem zyklischen Prinzip unterordnen, das aus drei Stadien besteht: Entstehung, Blüte und Niedergang.
Fazit: Großartig! Der Musikmagier Jerome Reuter hat wieder einmal alles richtig gemacht. Die schöne Gewissheit, dass die Klangkunst von ROME wirklich etwas ganz Besonderes ist, wird eindrucksvoll bestätigt. So kunstvoll wie auf diesem Album wurden die typischen Stilelemente noch nie zusammengefügt. Einige Kompositionen können locker mit den besonders herausragenden Klassikern mithalten. „The Lone Furrow“ gehört sicher zu den besten ROME-Alben! Und: Man findet sehr leicht Zugang, es gibt nur wenige Alben von ROME, die so eingängig gestaltet sind. So ist diese Scheibe auch eine vorzügliche Einstiegsdroge in das faszinierende Gesamtwerk. (stefan)
Der Song „Ächtung, Baby!“ bei YouTube: