INTERVIEW

VLIMMER :: Wenn das Ungreifbare existiert

In den letzten Monaten sind viele wirklich gute Alben veröffentlicht worden. Es gab dabei reichlich Neuerscheinungen von liebgewonnen Bands, welche mein Ohr schon seit mehreren Dekaden begleitet haben. Aber natürlich gibt es auch die Neuentdeckungen und da hat mich besonders der Berliner Künstler Alexander Leonard Donat mit seinem Ein-Mann-Projekt VLIMMER begeistern können. Meine gedankliche Evolution von „Was ist denn das“ bis hin zum staunenden „Wow“ beim Hören des aktuellen Werkes „Nebenkörper“ (Review lesen), war ein faszinierender Prozess, den ich nicht mehr missen möchte. Das hinter einem interessanten Werk auch ein interessanter Künstler/ Mensch stecken muss, davon könnt ihr euch im folgenden Interview überzeugen. Ein Tipp: Hört das Album nicht oberflächlich (funktioniert aber auch), sondern achtet auf die Details, die Variationen und auf den Text. Und… dreht den Lautstärkeregler zum passenden (bezogen auf die Songs und Nachbarn) Moment richtig auf. Viel Spaß beim Hören und Lesen. Danke Leonard für den netten Kontakt und die ausführliche Beantwortung meiner Fragen. Viel Erfolg, gewünscht von Herzen! (andreas)

Facebook / Bandcamp

 

Kannst du dich zuerst unseren Lesern kurz vorstellen und ein wenig über die Entstehungsgeschichte von Vlimmer und den 18 EPs erzählen?

Vlimmer entstand 2015 in der dritten Etage einer Wohnung am Stadtrand von Fürstenwalde, Brandenburg, als ich auf Knien sitzend an meinem Technics-Synth und einem Berg an Effektgeräten rumspielte, um genau das zu machen, worauf ich schon Jahre vorher Lust hatte, es aber wegen anderer Bandprojekte nicht schaffte: eine düstere Variante des Shoegaze zu erschaffen. Dass ich damit recht schnell in der Darkwave/Post-Punk/Synth/Goth-Szene landen würde, überraschte mich, spielt aber nur eine untergeordnete Rolle.

Die Songs flossen jedenfalls nur so aus mir raus, sodass ich schnell merkte, dass ein Album dafür gar nicht reichen würde. Ein Doppelalbum wiederum wäre zu viel auf einmal gewesen. Also entschloss ich mich, die Geschichte von „Jagmoor Cynewulf“ musikalisch zu erzählen. Dabei handelt es sich um ein Buch, welches ich kurz zuvor als Begleitung für ein anderes Bandprojekt schrieb. Inhaltlich war es wie gemacht für den Vlimmer-Sound: atmosphärisch, finster, hoffnungsarm. Auch der Klang der deutschen Sprache bot sich dafür an. Ich nutzte also den bereits entstandenen Buchtext für meine Songs und musste mir so keine Gedanken um neue Lyrics machen. Zufällig reichte das erste Kapitel für fünf Songs, womit die EP als Format automatisch festgelegt war. „Jagmoor“ hat 18 Kapitel, also dachte ich mir: „Na, dann mache ich halt 18 EPs.“

 

Warum bist du von dem Konzept der VÖ von EPs abgewichen?

Noch bevor die EP-Serie abgeschlossen war, war mir klar, dass ich danach das Format wechseln würde und es endlich Zeit für das Vlimmer-Debütalbum sein würde. Alben sind einfach die Königsdisziplin, der Beweis, ob eine Band oder ein Künstler etwas zu bieten hat und keine Eintagsfliege oder ein One-Trick-Pony ist.

 

Alte Leute kennen ja noch das Konzept, dass man seine (Maxi-)Singles nummeriert (Bestes Beispiel: The Mission). Du hast dies auch getan, dabei römische Ziffern benutzt, allerdings nie das V für die 5. Gibt es dafür einen Grund, evtl. den, dass dieser Buchstabe deinen Namen noch irritierender macht und er am Anfang des Namens Vlimmer auftaucht?

Was für eine phänomenale Theorie, warum ich kein „V“ verwendet habe! Ich wünschte, da wäre ich selber drauf gekommen. Der Grund, jeden neuen EP-Titel um jeweils einen Strich („I“) zu erweitern und letztendlich bei „IIIIIIIIIIIIIIIIII“ anzukommen, war jedoch niederer Natur: Ich wollte Leser und Hörer provozieren und gleichzeitig zu absoluter Konzentration zwingen. Ab Teil sechs wurde es nämlich wahnsinnig schwierig, auf die Schnelle die Striche durchzuzählen. Da ich entgegen meiner Erwartung aber immer mehr Hörer hatte, entschloss ich mich mit Teil zehn tatsächlich, Gnade walten zu lassen und griff auf das logisch erscheinende „X“ zurück, nur um kurz danach wieder auf falsche römische Zahlen zurückzugreifen. „XIIIIIIII“ war der Abschluss.
Und ja, insgesamt wollte ich auch irritieren. Die Idee des „Flimmerns“ in Form von visuellen oder auditiven Reizen war perfekt für meine Musik, aber „Flimmer“ sah aus wie ein niedlicher Indiepop-Name, also musste für denselben Klang ein anderer Buchstabe hinhalten. Damals rechnete ich übrigens nicht mit internationaler Hörerschaft, die Vlimmer natürlich fast immer „Wlimmer“ ausspricht. Ich mag diese Unklarheit.

Ist es hilfreich so einem Namen zu wählen, um im WWW besser gefunden zu werden? BTW: Magst du Veltins?

Damals dachte ich noch nicht daran, dass mich jemand im www suchen wollen würde. Die Zeit beweist aber: Es war ein Glücksgriff, denn der Name ist griffig und erzielt direkte Suchergebnisse, auch wenn es ein paar Jahre dauerte, bis sich das belgische Dorf Vlimmeren nicht mehr unter die Suchergebnisse schummelte. Veltins ist im Übrigen okay, vielleicht bringen die ja auch mal ein IPA raus.

 

Kommen wir nun zum aktuellen Werk „Nebenkörper“. Gab es eine andere Herangehensweise, als bei den EPs?

Definitiv. Vom Songwriting her nahm ich mir vor, schneller auf den Punkt zu kommen und ausufernde Passagen sowie zehnminütige Songs außen vor zu lassen. Maßgeblich war auch der Wechsel des Equipments. Ich beschloss, keinen meiner bis dato verwendeten Synthesizer mehr für Vlimmer zu verwenden, da ich das Gefühl hatte, damit alles gesagt zu haben. Zusätzlich wollte ich den Fokus auf Drums, vor allem auf Toms legen und wegkommen von maschinenhaften Drumpatterns. Der tribalhaftige Charakter des Albums war von Anfang an intendiert. Ebenso der Synthsound, der für mein Verständnis zeitlos klingt und nur noch wenig mit den 80ern zu tun hat – einem Jahrzehnt, in das Vlimmer zu Zeiten der EP-Serie gerne gesteckt wurde

 

Die Musik ist insgesamt ein kräftiger „Wall of Sound“ und schwer einordbar, da mal die Rhythmik, mal die Melodie im Vordergrund steht. Hinzu kommt, dass sich cleane Passagen mit schrägem Industrial abwechseln. Auch im Bezug auch kühle und warme Klänge gibt es eine Ambivalenz. Welche Wirkung willst du mit den Gegensätzen erzeugen?

Danke, „schwer einordbar“ ist für mich zuallererst ein Kompliment, auch wenn ich aktiv darauf keinen wirklichen Einfluss habe, da ich nun mal die Musik mache, die aus mir kommt. Dass hier mal die Rhythmik und dort mal die Melodie im Vordergrund steht, mag damit zusammenhängen, dass die Songs bei mir unterschiedlich entstehen. Meist starte ich mit dem Synthesizer und einem Riff, bei diesem Album standen die Drums jedoch überdurchschnittlich oft am Anfang, was mit Lieferverzögerungen des neuen Arturia Polybrutes zu tun hatte, den ich sehnlichst erwartete. Da ich keine „alten“ Synthesizer verwenden wollte, war ich also gezwungen, anders in die Album-Sessions zu starten.
Dass sich cleane und verzerrte Passagen abwechseln, einiges schwelgerisch, anderes wiederum brutal daherkommt, hat mit meinem Verständnis von Album zu tun. Einfach zehn gleichklingende Songs aneinanderzureihen, würde mich zutiefst langweilen. Gerade Gegensätze lassen das davor Geschehene ja noch mal in einem anderen Licht stehen, ein dramaturgischer Bogen unterscheidet zudem ein abenteuerliches Album von einem 0815-Werk. Wenn ich mit „Kartenwarten“ den softesten Track bringe, danach mit dem krass verzerrten „Kron“ drübermähe, erzielt das einen Schockeffekt, der gerade aufgrund der Gegenüberstellung seine Wirkung erst richtig entfalten kann. Ich denke da absolut als Albumhörer, nicht als jemand, der die Songs einzeln hört. Generell möchte ich überraschen, ich möchte, dass man nicht ahnt, was als nächstes kommt, und trotzdem einen Soundrahmen schaffen, der insgesamt einen roten Faden besitzt. Um das zu garantieren, habe ich Pete Burns von Kill Shelter mit dem Mastering beauftragt. Ein wichtiger Punkt war dabei die von dir erwähnte „Wall of Sound“. Ich wollte den Hörer praktisch erschlagen.

 

Würdest du Titel und Texte eher philosophisch, psychologisch oder spirituell gedeutet wissen? Wie steht der „Nebenkörper“ in Bezug zum Selbst?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, die Texte sind eine Mischung aus philosophischer und psychologischer Natur, die sich um die Existenz des Individuums drehen. Der „Nebenkörper“ fungiert dabei als eine Art Parallelexistenz – und das meine ich nicht spirituell, sondern rein psychologisch. Wir alle haben ein Verständnis von uns selber, letztendlich sorgt aber erst die Wahrnehmung des anderen von uns für ein kompletteres Bild, sprich: Was stelle ich für den Betrachter dar? Zumindest können wir uns davon nicht vollständig freisprechen. Die Wirkung eines Menschen auf andere macht ihn nicht unmaßgeblich zu dem, was er ist. Im Englischen ist der „Nebenkörper“ übrigens ein Sekundärkörper, was viel hierarchischer klingt. Man mag sich fragen, was dann im Vlimmer-Kontext der Primär- und der Nebenkörper ist. Das Selbst-Verständnis oder das, was andere in mir sehen? Letztlich geht es um Zwischenzustände, ungreifbares und doch existierendes.

 

Hätte das textlose „Farbenmüde“ Worte, gingen sie in Richtung „grau“ oder in Richtung „schwarz-weiß“?

Ha, weder noch! Es geht um alle existierenden Farben außer schwarz und weiß. Ich war müde hinsichtlich der Schwarz-weiß-Farben auf den Covern der EP-Serie und wollte visuell endlich Farbe ins Vlimmer-Universum klecksen. Auch dahingehend ist es eine klare Abgrenzung zu meinen Veröffentlichungen 2015-2020.

 

Der erste Song nach dem „Intro“ beginnt gleich mit dem Satz „Du siehst mich aus dem Rahmen steigen.“ Wer setzt den Rahmen, wer beobachtet dich dabei? Wie ist die Beziehung zwischen „Du“ und „Ich“?

Der Rahmen, aus dem ich steige, ist die Vergangenheit, die Gewohnheit, das Bekannte. „Fensteraus“ ist ein Kompositum aus „Fenster“ und „raus“ mit absichtlichem Fehler: das „zweite r“ fehlt. „Du“ ist dabei der Hörer, „ich“ ist meine Künstler-Existenz. Ich mache von Anfang an damit klar: Du bekommst nicht das, was du sonst von mir bekommst, ich bin nicht mehr der, der ich vorher war. Es war der erste Song und der erste Text, den ich für das Album schrieb, und er bringt kondensiert das auf den Punkt, was ich mit meinem ersten Album ausdrücken wollte. „Fensteraus“ gibt die Marschrichtung vor.

Du spielst des Öfteren mit Worten bzw. mit Buchstaben. Wie entstehen deine Texte, wann schreibst du? Brauchst du eine bestimmte Atmosphäre?

Songtexte entstehen zu 90% erst dann, wenn ich Texte für ein fertiges Instrumental brauche. Das Schreiben an sich erfolgt meist nachts und zunächst ohne Bezug zum Song. Die Metrik und die tatsächlich verwendeten Verse werden im Moment der Aufnahme zurechtgestutzt. Eine bestimmte Stimmung benötige ich nicht, aber natürlich fließt es mal mehr und mal weniger, einiges steht im Moment des ersten Singens, anderes muss auch nach Wochen noch ausgebessert und neu eingesungen werden. Dabei ist der Prozess sehr intuitiv, ausgelutschte Klischees versuche ich zu umschiffen.

 

Gibt es Lyriker oder Musiker, welche dich beim Schreiben der Texte beeinflusst haben?

Musiker haben mich beim Texte-Schreiben nicht beeinflusst, möchte ich meinen. Während meines Englisch- und Deutsch-Studiums war ich aber ziemlich beeindruckt, wie Samuel Beckett und Arthur Schnitzler den einzelnen Menschen in ihren Werken in Bezug zu seiner Umwelt gesetzt haben. Rein vom Stil meines Texte-Schreiben hatte das keinen Einfluss, aber es hat mein Denken in Bezug auf das Wechselspiel des Selbst und der Gesellschaft maßgeblich beeinflusst und dadurch sicherlich auch meine Art, Texte zu schreiben. Zwischen dem literarischen Existentialismus eines Beckett und dem fin de siécle eines Schnitzler liegt historisch ein halbes Jahrhundert, das eine Phase der Menschheit abdeckte, in der öffentliche Sinnkrisen verarbeitet und ins Private getragen wurden (und vice versa). Dieses Wechselspiel finde ich aufregend, und der Begriff „Nebenkörper“ hätte vermutlich ganz gut in jene Zeiten gepasst.

 

„Meter“ ist voller Fragen. Gibt es das Gegenüber, welche die Fragen beantworten könnte, oder ist es eher eine versteckte Selbstbefragung? Ist das kleine (Millimeter) dem großen (Kilometer) überlegen?

Die meisten Fragen stelle ich meinem Gegenüber, da mich sein Verhalten verwirrt. Auch Menschen, die wir seit langer Zeit zu kennen glauben, tragen manchmal Eigenschaften in sich, die unter bestimmten Umständen erst zu Tage treten und das Bild, das wir von ihnen haben, teils dramatisch verändern können. Die einzige Frage, die ich mir selber stelle – „Hör ich denn zu?“ -, räumt aber auch mir eine mögliche Teilschuld ein. Hätte ich einen positiven Einfluss nehmen können? Wir sollten uns gegenseitig beachten, zuhören und auch mal nachfragen, was im Leben des anderen gerade geschieht. So manches Problem ließe sich vielleicht leichter oder gar von allein lösen, wenn man es sich zumindest einmal von der Seele geredet hat und das Gefühl besitzt, dass jemand davon Notiz nimmt und man nicht allein damit ringt. Ob Millimeter oder Kilometer – es geht am Ende nicht um Überlegenheit, sondern darum, wie weit wir uns schon voneinander entfernt haben.

 

„Minusgesicht“ scheint auf dem ersten Ohr abwertend, aber es geht wohl weniger ums Aussehen, sondern eher um das Sehen, oder? Kannst du uns ein wenig aufklären?

Dass der Songtitel abwertend interpretiert werden könnte, war mir bis jetzt gar nicht bewusst, aber ich sehe nun Assoziationen à la „Gesichtsfünf“ oder „Gesichtselfer“. In der Tat geht es dabei aber nicht ums Aussehen, sondern um das Ablegen seines Gesichtes. Nicht im Sinne des „Gesichtsverlustes“, sondern als Erleichterung. Es geht um das Abnehmen einer Maske, um einen Neuanfang, vielleicht auch um das Erkennen des Eigentlichen, das sich darunter befindet. Nimmt man dieses „Gesicht“ ab, kommt ein weiteres zum Vorschein. Vielleicht ja sogar „das“ Gesicht.

 

Ist das wilde „Ad Astra“ eher von Flucht oder der Freude der Rückkehr gewidmet? Sind die Sterne als Metapher zu verstehen?

„Ad Astra“ ist nicht nur musikalisch von großer Unruhe geprägt, auch textlich pendelt es zwischen Optimismus und Hoffnung auf der einen und Pessimismus und Angst auf der anderen Seite, wobei schlussendlich tatsächlich erstes dominiert und der Song die Sterne als positive Metapher verwendet. Sie fungieren als Mittel, wieder Ruhe in den unsteten Verstand zu bringen. Ebenso bleibt aber ein Rest Zweifel, dass ebendiese Sterne das Fass erst zum Überlaufen bringen und ins Unglück stürzen.

Gibt es einen Song/ einen Text, welchen du als perfekten Einstieg in die Welt von „Vlimmer“ empfehlen würdest und warum?

Das ist schwer zu beantworten. Textlich ist das vermutlich „Fensteraus“, da es in wenigen Worten alles zusammenfasst, worum es mir 2021 bei Vlimmer geht. Musikalisch eignet sich vermutlich eher ein weniger apokalyptischer Einstieg, der einen nicht gleich in einen Sog zieht und vermöbelt. Hier wähle ich „Lebenswert“ (von „XIIIIII“ [16]) als Repräsentant für Vlimmer vor dem Album und „I.P.A.“ als Vertreter für die aktuelle Verkörperung.

 

Andere Songs scheinen irgendwie zwischen Gedankenkarussell, Flucht, Traumwelten, Erinnerungen und Wünschen zu pendeln. Gibt es diesen „Point of no return“, bei dem du dir sagst, hier habe ich mich in den Texten verwirklicht?

Das beschreibst du schon ganz gut, mit dieser Einschätzung kann ich mich im Großen und Ganzen anfreunden. Was die Selbstverwirklichung betrifft, würde ich den Text von „Lebenswert“ heranziehen. Dort heißt es: „Immer häufiger betrachte ich die Welt durch die Augen eines Fremden / Ich sah mich sitzen / Ich sah mich laufen / Geistere an mir vorbei / Zittriges Streichen an feuchter Schläfe / Ist das denn meine Hand? / Deine Hand oder meine Hand?“, und letztendlich: „Was wir tun, wie wir’s tun, tun wir, weil’s nicht anders geht.“ Damit meine ich nicht, dass wir Sklaven unseres Handelns sind und uns der damit verbundenen Verantwortung entziehen können, aber der Mensch an sich hat doch eher die Tendenz, Dinge und letzten Endes sich selbst zu zerstören.

 

Wie sehr hatte die Corona-Pandemie Einfluss auf Texte und/oder Musik?

Die Pandemie wirkte vor allem im ersten Jahr stark auf mein textliches Schaffen ein, da sie einen direkten Einfluss auf mich und alle Menschen hatte und noch immer hat. Der Alltag ist seit über anderthalb Jahren ein anderer, das muss verarbeitet werden, ignorieren kann man es nicht.

 

Wenn du die letzten zwei Jahre betrachtest, unterscheiden sich die Augen des Musikers und die des Menschen?

Da ich Lehrer bin und mit Musik nicht mein Geld verdienen muss, sind die Augen des Musikers und die des Menschen dieselben, wenn ich die Frage auf mich münze. Wäre ich existentiell abhängig von Auftritten und den damit verbundenen Einnahmen sowie Tonträger- und Merchandise-Verkäufen, läge ich nachts wahrscheinlich wach, da der bundesweite Flickenteppich an ständig angepassten Corona-Regeln den Konzertalltag erschwert oder gar ganz verhindert. Eine Alternative ohne Bauchschmerzen fällt mir jedoch nicht ein. Dahingehend bin ich froh, kein Politiker zu sein, der in dieser Zeit Entscheidungen treffen muss.

 

Gibt es bei deiner Musik/deinen Texten auch gesellschaftskritische/politische Ansätze oder bleibst du eher auf der Ebene der Persönlichkeit?

Es geht in erster Linie um persönliche Ansätze, wobei die Grenzen natürlich verschwimmen. Die allermeisten Vlimmer-Texte starten mit einem direkten Bezug zu mir, aber ich verorte das lyrische Ich natürlich auch in Bezug auf seine Umgebung. Die Texte der 18-EP-Serie handeln vom Auseinandersetzen des Individuums innerhalb einer Gesellschaft, zu der der Protagonist keinen Zugang findet, da er das Handeln seiner Mitglieder als bloßes Schauspiel entlarvt, an dem er nicht teilnehmen möchte. Ich versuche dennoch eher, zu attestieren, als zu verurteilen und mit dem Finger auf mein Gegenüber zu zeigen. Heutzutage gewinnt nämlich niemand mehr, wenn wir weitere Keile zwischen die Bevölkerung schlagen. Wie die spürbare Spaltung in vielen westlichen Ländern jedoch gekittet werden kann? Da fehlt mir die Vorstellungskraft.

 

Deine Texte bieten reichlich Platz für Interpretation. Wie wichtig ist es dir, dem Hörer diesen Platz zu lassen?

Es ist nicht meine primäre Absicht, einen Text zu schreiben, aus dem jeder ziehen kann, was er will, aber ich habe auch nichts dagegen, wenn die Hörer ihre eigenen Interpretationen des Ganzen haben und den Song mit Bedeutung befüllen. Das geschieht, denke ich, ohnehin automatisch, wenn man nicht gerade mit Linernotes explizit erklärt bekommt, worum es bei einem Text geht. Letztlich macht das Vage auch einen Teil der Magie eines Songs aus.

 

Als Solo-Künstler fehlt meist der Austausch. Gibt es Personen in deinem Umkreis, denen du deine Musik vorspielst oder deine Ideen mitteilst?

Bei Vlimmer ist meine Frau die einzige, der ich etwas vor der Veröffentlichung vorspiele. Allerdings handelt es sich dabei immer um den fertigen Song. Ich frage dann gerne, ob dieser oder jener Song bei ihr klickt. Sie ist dabei ein guter Indikator, um Singles zu identifizieren. Ohne sie wäre „Meter“ beispielsweise nicht auf „Nebenkörper“ gelandet – und das ist immerhin der bis dato meistgespielte Song des Albums in Radioshows, Podcasts oder auf Spotify. Was nicht-musikalische Ideen wie Photoshootings betrifft schätze ich ihr Auge und ihre Meinung sogar noch mehr, hier gehört sie zum festen Vlimmer-Team.

 

Wie wichtig ist für dich die Veröffentlichung auf verschiedenen physischen Tonträgern (CD, LP, MC)?

Physische Releases sind mir unheimlich wichtig, da versuche ich auch mit meinem Label Blackjack Illuminist Records klarzumachen. Sie sind nicht nur das i-Tüpfelchen, sie sind essentiell und erweitern die Musik um eine weitere Ebene. Sie haben durchaus auch die Macht, eine ganze Welt drumherum zu kreieren. Zudem hat man zum Beispiel bei Kassetten ganz andere Möglichkeiten, sich beim Artwork auszutoben als bei der CD oder dem Vinyl-Cover. Einen Digital-only-Release wird es von Vlimmer höchstens geben, wenn er auf einem Nebenschauplatz stattfindet, niemals aber mit einem Album oder einer Serie von Veröffentlichungen. Dass ich mit „Nebenkörper“ erstmals auch Vlimmer auf Vinyl veröffentliche, ist für mich die Erfüllung eines Traumes, ein persönlicher Meilenstein. Umso schöner ist es, dass es sogar zwei verschiedene Ausgaben gibt, wovon die Deluxe-Variante mit dem verrosteten Vlimmer-Logo auf dem Cover heraussticht. Verantwortlich dafür ist Mario von Minimalkombinat, ein Getriebener wie ich, der sein Herzblut in alles steckt, was er berührt. Diese Zusammenarbeit war eine ganz spezielle Erfahrung, für die ich sehr dankbar bin.

 

Gibt es Planungen für Live-Konzerte und was dürfen die Leute erwarten?

Derzeit kann ich leider keinerlei Hoffnung auf eine Live-Performance von Vlimmer sähen.

Sag mal, wolltest du Anfang dieses Jahres wirklich deine Vlimmer-Maske verkaufen?

Oh ja. Für den Neuanfang, den ich mit „Nebenkörper“ anstrebte, bot ich im Rahmen einer Bandcamp-Vinyl-Pledge-Aktion unter anderem auch die einzige Vlimmer-Maske an, die ich bis dahin hergestellt hatte. Ich war für einige Monate fest davon überzeugt, Vlimmer fortan mit meinem tatsächlichen Antlitz fortzuführen. Das kann man in mindestens drei Songtexten sogar ziemlich deutlich nachlesen. Damals ging es darum, mithilfe von Bandcamp und den eigenen Hörern eine Vinyl-Pressung des letzten EP-Teils zu finanzieren. Ein US-amerikanischer Fan reservierte sich die Maske auch tatsächlich für 500 Euro, aber letztlich kam das nötige Geld nicht komplett zusammen und so blieb sie in meinem Besitz. Glücklicherweise. Stattdessen wechselte sie ihre Farbe und ermöglichte so überhaupt erst das „Nebenkörper“-Cover, das für mich auch Monate nach Fertigstellung die Stimmung perfekt wiedergibt.