Livebericht vom 27.10.2023 im Club Stereo in Nürnberg
(Text & Bilder von Stefan)
Der Weg führt nach unten: Wer in den Club Stereo will, muss viele Stufen hinabsteigen. Als ich den kleinen Club betrete, ist dieser schon fast vollständig gefüllt. Etwa 150 Leute haben sich vor der Bühne versammelt, auf der in wenigen Minuten Jerome Reuter mit seinem Musikprojekt ROME auftreten soll.
Ich bin sehr gespannt auf den Auftritt, denn ich werde die Lieder des neuen Studioalbums „Gates Of Europe“ (Review hier lesen) zum ersten Mal live erleben. Das Album beschäftigt sich ausschließlich mit dem Ukrainekrieg. Am 24.02.2022 begann der Großangriff Russlands auf die Ukraine – und gleich darauf hat sich Reuter mit dem attackierten Land solidarisiert. Seitdem hat er viele Konzerte zugunsten der Ukraine gespielt, teilweise auch in der Ukraine. Besonders eindrucksvoll war das Solidaritätskonzert, das ROME in Kyiv am 18.02.2023 gespielt hat. Unlängst ist eine Doppel-CD dieses großartigen Konzerts erschienen (Review hier lesen).
An diesem Abend wird schnell klar, dass auch dieses Konzert der Unterstützung der Ukraine dienen soll. Denn das Konzert wird eingeleitet, indem ein ganz besonderes ukrainisches Volkslied erklingt. Dabei handelt es sich um das Lied „Plywe Katscha Po Tyssyni“. Es gibt viele Versionen des Lieds. Heute Abend erklingt die Version der Gruppe PIKKARDIYSKA TERTSIYA (Lied bei YouTube anhören). Diese Version wird in der Ukraine häufig gespielt, um an die Ermordeten der Proteste des Euromaidan zu erinnern. Und seit Russland gegen die Ukraine Krieg führt, dient das Lied auch dazu, die Toten des Kriegs zu ehren. Das Lied klingt sehr traurig, es entsteht eine andächtige Atmosphäre.
Im Anschluss an das ukrainische Volkslied wird der Eröffnungstrack des Albums „Gates Of Europe“ gespielt. Die Klangcollage beinhaltet vor allem Sprachsamples, bei denen Nachrichtensprecher über den Kriegsausbruch berichten. Während diese sehr bedrohlich wirkenden Nachrichten zu hören sind, betreten Jerome Reuter und Yann Dalscheid die Bühne. Dalscheid ist – wie bei dem legendären Konzert in Kyiv – für das Schlagzeug und den Hintergrundgesang zuständig. Als die Klangcollage endet, starten die beiden Akteure mit dem Song „The Death Of A Lifetime“. Der Track folgt auch beim neuen Studioalbum direkt auf die Klangcollage mit den Sprachsamples. Auch live klingt das elektro-lastige Lied sehr überzeugend – wirklich ein toller und mitreißender Start!
Danach spielt ROME „Families Of Eden“, ein Lied der Trilogie „Die Ästhetik Der Herrschaftsfreiheit“. Dafür legt Reuter die Gitarre zur Seite und greift zur Trommel. Die Rhythmik des Lieds ist schleppend, die Stimmung finster. Geradezu erschütternd ist Reuters beschwörender Gesang. Beim nächsten Song bleibt Reuter an der Trommel, denn jetzt wird „Eagles Of The Trident“ in den Raum gewuchtet. In dem Stück wird die unerbittliche Kampfkraft der ukrainischen Armee gepriesen. Erfreulicherweise wirkt die Liveversion des Songs sogar noch druckvoller als die Studioversion. Das martialisch klingende Lied beindruckt auch live vor allem wegen seiner sehr dynamischen Trommelrhythmik. Nicht nur bei der Percussion, sondern auch beim Gesang zeigt sich, dass das wilde Treiben von Reuter und Dalscheid meisterhaft aufeinander abgestimmt ist. Tatsächlich gelingt es dem Duo, dieses besonders packende Lied auf absolut überwältigende Weise zu präsentieren. Genial!
Nach dieser sehr energiegeladenen Darbietung greift Reuter wieder zur Gitarre. Reuters Gitarre ziert übrigens ein nationales Symbol der Ukraine, über das er im vorherigen Lied gesungen hat. Es handelt sich dabei um den ukrainischen Dreizack. Als Nächstes wird der Folksong „Our Lady Of The Legion“ gespielt. Dieser Song klingt auch live sehr harmonisch. Auch das anschließende „Celine In Jerusalem“ ist ein herrlich melodischer Folksong, die Livepräsentation überzeugt mich vollkommen.
Anschließend widmet sich ROME erneut dem ukrainischen Freiheitskampf, denn die mutmachende Hymne „The Brightest Sun“ kommt zum Einsatz. Im Refrain verwendet Reuter den ukrainischen Gruß „Slava Ukraini!“. Zurzeit symbolisiert der Gruß vor allem den Widerstandswillen gegen den russischen Angriff. Im weiteren Verlauf der Setlist freue ich mich besonders darüber, dass „Going Back To Kyiv“ berücksichtigt wird. Das Lied klingt auch live absolut überwältigend: ROME offenbart durch dieses Klangwunder eine zutiefst berührende Anteilnahme am Schicksal der Ukraine!
Es werden auch zwei Klassiker gespielt, die ich sehr wertschätze: „Neue Erinnerung“ und „Der Wolfsmantel“. Ein Höhepunkt des Abends ist auch das Lied „Uropia O Morte“ – hier bringt Reuter seine Sehnsucht nach einem wirklich freien Europa auf herzergreifende Weise zum Ausdruck. Direkt danach folgt der nächste brillante Song: „One Lion’s Roar“. Bei diesem herrlich melodisch klingenden Ohrwurm singt das Publikum begeistert mit. Begleitet von viel Applaus verlassen Reuter und Dalscheid am Ende des Songs die Bühne. Das reguläre Set ist beendet.
Es gibt aber noch eine Zugabe. Sie ist dramaturgisch perfekt aufgebaut. Zunächst kehrt Reuter allein auf die Bühne zurück. Zur Würdigung des heldenhaften ukrainischen Widerstands spielt er das sehr wehmütig klingende Lied „The Ballad Of Mariupol“. Dann präsentiert Reuter einen ganz neuen Folksong (eine Studioversion gibt es bislang noch nicht). Angeblich heißt das Stück „Prometheus“, es klingt sehr harmonisch und eingängig.
Nachdem Reuter seine beiden Solonummern voller Hingabe präsentiert hat, kehrt Dalscheid auf die Bühne zurück. Das heißt, man kann nun wieder mit druckvolleren Stücken rechnen. Zunächst begeistern die beiden Klangmagier mit der mitreißenden Hymne „Yellow And Blue“ – ein grandioses Loblied auf den starken ukrainischen Freiheitswillen! Bei dem Lied verzaubert die Lightshow ausschließlich mit den Farben gelb und blau. Es entsteht ein famoses Zusammenspiel von akustischen und optischen Eindrücken. Perfekt!
Dann folgt „One Fire“, die Studioversion des aufputschenden Songs bezieht sich auf Rhodesien. Doch heute Abend singt Reuter über die Sehnsucht nach einem freien Europa. Der krönende Abschluss des Konzerts ist das melodramatische Klangjuwel „Swords To Rust – Hearts To Dust”. Als Reuter und Dalscheid die Bühne endgültig verlassen, spendet das Publikum reichlich Applaus. Dazu erklingen die feierlichen Töne der orchestralen Klangcollage „Les Hirondelles“. Auch die Atmosphäre beim Konzertende berührt zutiefst!
Der Auftritt dauerte 90 Minuten. Die Setlist war sehr überzeugend, sie entsprach in weiten Teilen dem legendären Konzert in Kyiv. Auch die Klangqualität ließ keine Wünsche offen. Alle Töne waren differenziert wahrnehmbar. Es war nicht zu laut – und nicht zu leise. Reuters großartige Stimme stand zu Recht im Mittelpunkt des Geschehens.
Am Anfang des Konzerts war die Stimmung sehr ernst, später wurde sie gelöster. Zunächst sprach Reuter zwischen den Liedern kein Wort, doch dann wurde er redseliger. Reuter rief auch dazu auf, das von Leopold Lysogorski gegründete Hilfsprojekt EVROPA INVICTA mit einer Spende zu unterstützen. Lysogorski transportiert lebensnotwendige Dinge (Babynahrung, Medikamente, kugelsichere Westen usw.) in die Ostukraine. Die Spendenbox stand gut sichtbar direkt neben dem Merchandisingstand. Die Farben der Box? Natürlich gelb und blau!
Als ich aus dem Gewölbe des Clubs emporsteige, liegt ein großartiges Konzerterlebnis hinter mir. ROME-Konzerte haben bei mir schon immer wie eine Katharsis gewirkt – und dieses Mal war diese Wirkung besonders stark! Vor allem live erzeugt die Musik von ROME ein sehr intensives Wechselbad der Gefühle. Dunkle Stimmungsbilder und dramatische Inhalte wühlen die Seele auf. ROMEs Klangkunst konfrontiert uns mit den charakterlichen Abgründen der Spezies Mensch (Hass, Niedertracht, Lüge, Verrat, Machtgier) – einerseits.
Andererseits: Diese Musik vermittelt auch eine starke Botschaft der Hoffnung. Auf befreiende Weise wird uns verdeutlicht: Nicht alles ist schlecht auf dieser Welt – es gibt auch Gutes! Es gibt Menschen, deren Taten vorbildlich sind. Durch diese edlen Taten kommt etwas Ehrfurchtgebietendes in unsere Welt (Liebe, Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit). Dank der Klangkunst von ROME offenbart sich das eigentliche Wunder unserer unvollkommenen Schöpfungsordnung: Das Wunder ist, dass es das Gute überhaupt gibt! Daran wird man durch die Musik von ROME regelmäßig erinnert. Diese mahnende Erinnerung gehört zu den großen Verdiensten der Klangkunst von Jerome Reuter!
Zum Abschluss – und zur Erinnerung: Am 21.11.2013 begannen in Kyiv die Proteste des Euromaidan. Damals riefen die Demonstranten „Die Ukraine ist Europa!“. Bei diesen proeuropäischen Protesten zeigte sich eindrucksvoll, dass die Ukraine ein freies Land in einem freien Europa sein will. Heute will das die Ukraine mehr denn je! Wir sollten die Ukrainer und Ukrainerinnen mehr denn je bei ihrem Freiheitskampf unterstützen! In diesem Sinne: Slava Ukraini! (stefan)
Einen interessanten Artikel über den Beginn der Proteste des Euromaidan vor 10 Jahren gibt es in der taz zu lesen:
https://taz.de/10-Jahre-Maidan-Proteste/!5970961/