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FILM „Das Grauen kommt Nachts“ (Giallo)

Originaltitel: Delirio Caldo

Alternativtitel: Crime / Delirium

Produktion: Italien, 1972

DVD-Veröffentlichung: 05.05.2014

Wertung: gut

Regie: Renato Polselli

FSK: 18 (nicht geprüft)

Darsteller: u.a. Mickey Hargitay, Rita Calderoni, Raoul, Christa Barrymore, Tano Cimarosa…

Genre: Giallo

Studio: filmArt

ACHTUNG, ACHTUNG: Es könnten sich einige kleine Spoiler im Review verstecken! Wer sich die Vorfreude auf einige Einzelheiten erhalten und diese selbst entdecken möchte, sollte sich den Film JETZT kaufen und danach das Review lesen und teilen!

Inhalt:
Der Psychiater Dr. Herbert Lyutak und seine Frau Marcia leben zusammen in einer unglücklichen Ehe. Nur bei seiner Arbeit als psychologischer Berater der örtlichen Polizei findet er ein Stück Erfüllung. Nach dem grausamen Mord an einer jungen Frau gerät er bald selbst in die Ermittlungen der Polizei und steht als Täter unter Verdacht. Wie im Delirium wird Lyutak von andauernden Halluzinationen geplagt und gesteht seiner Frau schließlich seine schreckliche Tat. Schweren Herzens beschließt Marcia ihren Mann gegenüber der Polizei zu decken. Die Ermittlungen überschlagen sich erneut, als weitere unmenschliche Morde das Umfeld um Lyutak erschüttern. Auch ein unscheinbarer Parkwächter heftet sich an seine Fersen. Diese Mal kann er es aber nicht gewesen sein.

Beim Review zu „Hetzjagd ohne Gnade“ habe ich damit gedroht, dass filmArt noch einige Knüller in der Hinterhand hat und zack-bumm-bonjour… da ist der nächste Knüller: „Das Grauen kommt Nachts“ ist der verspätete dritte Teil der „filmArt Giallo Edition“ und hier erwartet euch Kult.

Den Kult-Charakter hat der Film durch seine sensationelle Synchro! Gespickt mit Plattheiten und Fehlübersetzungen durchlauft ihr eine Tour de Force der gesprochenen Seltsamkeiten, wobei ich das Ganze nicht so schlimm finde, wie das, was man in den 70ern den „Nobody“-Filmen angetan hat. Lustig ist es trotzdem, wenn es am Telefon heißt: „Ich bin′s, der Kartoffel“. Weniger lustig, sondern eher nervig wird es, wenn die Damen später an ein Telefon gehen, aber niemand antwortet und sie gefühlte 100 Mal rufen: „Hallo? Hallo? Hallo? Hallo?“… Da musste ich erst mal den Ton leiser drehen, um nicht mein Rasiermesser aus dem Badezimmer zu holen und mir ein Ohr abzuschneiden… Von dem permanenten „Marcia“-Gerufe und dem „Hyäne“-Geschrei mal ganz abgesehen… OK, ′n Oscar gibt′s dafür schon mal nicht, aber sonst?!

Nenn es Trash, nenn es Sleaze, nenn es Schrott… ich nenne es gute Unterhaltung. „Das Grauen kommt Nachts“ unterhält durch sein „Who dunnit“ ganz hervorragend, wenngleich Genre-Kenner durchaus zwei Drittel der Lösung relativ schnell in den Beweisbeutel eingetütet und versiegelt haben. Aber der Weg ist das Ziel und der Weg ist unterhaltsam. Nehmen wir die Krimi-Komponente: spannend, nicht ganz so blutig, aber dennoch ausreichend gemein und mit einem gewissen Charme spielt sich der Film vor deinen Augen ab, wogegen der psychedelisch-psychologische Teil durchaus seinen Reiz hat. Die Grußkarte, die Lyutak seiner Gattin zum Hochzeitstag geschrieben hat, beginnt mit: „Ich bin ein impotenter Irrer.“
Wer schon mal eine Karte erhalten hat, die so anfängt und damit endet, dass man sich besser trennen sollte, ist
a) ziemlich schnell nach dem Vorlesen verstorben oder
b) ziemlich schnell wieder Single gewesen.
Es holpert manchmal im Film und nicht alles macht Sinn, aber wenn man den „Impotenten-Irren-Faktor“ nicht gleich wieder vergisst, machen die psychedelischen Szenen, in denen sich drei heiße Miezen nackt gegenseitig am Hintern knabbern, während der impotente Irre angekettet ist und nicht eingreifen kann, psychologisch beinahe schon zu viel Sinn, mit dem man in diesem Umfeld nicht unbedingt rechnen konnte.

Optisch umgesetzt ist der Film recht gefällig, wenn man von den wenigen experimentellen Schnitten (inklusive der teilweise psychedelischen Soundeffekte) Mal absieht. Ein Renato Polselli ist halt kein Bava oder Argento, aber das muss er ja auch nicht, wenngleich die oben erwähnte Szene durchaus für Bava/Argento-Fans interessant sein dürfte. Was Polselli macht, macht er gut, denn das geneigte Publikum wird auf′s Feinste mit einem Krimi unterhalten, wie man ihn damals (und zum Glück heute wieder) gerne sieht. Frau Calderoni ist eine Augenweide, während Herr Hargitay mit seinem Charaktergesicht den zerrissenen Charakter doch ganz beachtlich in Szene setzt.

Aber womit man bei filmArt wirklich überzeugen kann, ist die Fülle an Filmversionen. Schlappe vier Versionen hat man auf zwei DVDs gebrannt!
Das Prunkstück der Sammlung ist die „italienische“ Fassung (97:34 Minuten): aus dem Bild hat man bei filmArt mal wieder so richtig was rausgeholt, denn es sieht alters- und den Umständen entsprechend wirklich gut aus und es ist für mich die beste Version. Die ist rund und macht Spaß.

Dann gibt es die „Sexfassung“ (93:41 Minuten), für die man einige happige Sexszenen ausgegraben hat, die allerdings nicht in solch optischen Glanz erstrahlen, wie der Hauptfilm, in den man die Szenen eingebettet hat. Dafür schieben diese Szenen den Film noch eindeutiger und unbarmherzig in die „Sex and Violence“-Ecke. Renato Polselli erklärt im Interview, welches ihr in den Extras finden könnt, dass er die Schmuddelparts immer mit größtem Respekt angegangen ist und keine schmierigen Grinser am Set geduldet hat.

Dann gibt es noch die „deutsche Vietnamfassung“ (99:23 Minuten)… ja, richtig gehört: für den US-Markt hat man damals eine Version auf den Markt gebracht, die erklären soll, warum Herr Lyutak so ist, wie er ist und um das damals so aktuelle Thema Vietnam in den Film zu bugsieren… ein Vietnamtrauma… bzw. der Traum eines sterbenden Soldaten. Dafür wurden am Anfang und Ende des Filmes einige Kriegsszenen zugefügt, die man hier vor die deutsche/italienische Version gehängt hat. Leider, leider, leider handelt es sich nicht um die US-Version, denn die beinhaltet noch einige Morde mehr, aber so ist das ein prima Zugeständnis, wenngleich ich den Winkelzug, den Film im Nachhinein wie einen (Alb-)Traum aussehen zu lassen nicht wirklich prickelnd finde.

Als letztes hat man die „Kurzfassung“ (79:01 Minuten) parat, die man sich mal reinschieben kann, wenn man nicht soviel Zeit hat.

Wo wir gerade von der US-Version gesprochen haben: weil filmArt uns liebt, haben die Jungs die Szenen, die in der US-Fassung zu sehen sind, in die Extras gepackt. Das ist affengeil und so entgeht einem auch kein Mord und auch das alternative Ende ist nun verfügbar.

Weiter in den Extras findet man die Interviews mit Renato Polselli und Mickey Hargitay, einen Audiokommentar von Pelle Felsch und Christian Kessler, den Promotrailer und als ganz besonderes Bonbon einen italienischen Fotoroman als PDF, der den Film erzählt. OK, man sollte generell italienisch können, aber man kann sich auch an den expliziten Bildern ergötzen. Mein Semester denkt bei dem Roman ganz klar an die Foto-Love-Story aus der Bravo, nur hier bekommt man Sex and Violence mit Fotos aus dem Film und Sprechblasen. Wie geil ist das denn? Für die Super-Mega-Limited Edition, die ich in 10 Jahren erwarte, MUSS dieses Kleinod einfach nachgedruckt werden!!!

Was natürlich wieder nicht fehlen darf, ist das umfangreiche Booklet, diesmal mit einem Text von Heiko Hartmann, der mir zwei neue Vokabeln beigebracht hat, ohne die ich nicht mehr leben möchte: Gesichtsfasching und (jetzt schon das Wort des Jahres 2014:) Verfolgungsschlendern. Herr Hartmann geht recht hart mit dem Film ins Gericht und entlarvt ihn, als das, was er ist. Trash. Aber mir ist italienischer Trash aus den Untiefen der 70er-Jahre-Abkurbel-Logikloch-Kloake tausendmal lieber, als der teuerste CGI-Blockbuster aus Entenhausen.

Die filmArt-Version dürfte so ziemlich die umfassendste Abhandlung von „Das Grauen kommt Nachts“ sein, die es gibt. Dafür (wie gehabt): Chapeau! (chris)