BUCH
„Jugend und Melancholie. Die Faszination des Todes und das Phänomen der Melancholie am Beispiel der Gothic-Szene unter interdisziplinärem Aspekt“
(Sebastian Rauschner)
Wertung: Empfehlung!
VÖ: Juni 2013
Verlag: Verlag Dr. Kovac
Webseite: www.verlagdrkovac.de/3-8300-7135-3.htm
336 Seiten, Taschenbuch
ISBN: 978-3-8300-7135-8
89,80 Euro
Die Gothic-Szene – eine Gemeinschaft der Skeptiker?
Der Pädagoge Sebastian Rauschner möchte mit seiner Dissertation einen Beitrag für ein besseres Verständnis der Gothic-Szene leisten. Rauschner definiert die Szene als ein kulturelles Phänomen, das vor allem von Todesbewusstsein und einer daraus resultierenden Melancholie geprägt ist. Der Autor verdeutlicht, dass dieses Todesbewusstsein und diese Melancholie häufig falsch interpretiert wurden. Insbesondere wurde die Gothic-Szene immer wieder fälschlicherweise mit depressivem Verhalten und Suizidalität in Verbindung gebracht. Auch der Satanismus-Vorwurf geisterte gelegentlich durch die Medien.
Bei der Darstellung des Forschungsstands zeigt sich, dass auch die Wissenschaft die Szene zum Teil im Kontext der besagten Gefährdungsdiskurse interpretiert hat. Allerdings verdeutlicht Rauschner auch, dass in den letzten Jahren in der Fachwelt diese negativen Diskurse nicht mehr so häufig wie früher geführt wurden. Trotz dieser positiven Entwicklung warnt der Autor zu Recht davor, Gothics als pathologische Zeitgenossen zu betrachten, deren Verhalten therapiebedürftig sei. Konsequenterweise verzichtet Rauschner auf stigmatisierende Überlegungen, wenn er seine interessanten Interpretationsansätze zur Erklärung des Gothic-Phänomens entwickelt.
„Bedenke, dass du sterben musst“ als Lebensmotto
Als Quellenmaterial aus dem Fundus der Gothic-Szene dienen dem Autor einige Gedichte, die er einer psychoanalytisch orientierten Textinterpretation unterzieht. Dabei wird erkennbar, dass in der Szene die Bedeutung des Lebens vor allem im Zusammenhang mit dem Todesgedanken ausgelotet wird. „Bedenke, dass du sterben musst“ scheint nach Rauschner das zentrale Lebensmotto der Gothics zu sein. Ferner werden durch die Gedichte die Ideale des Individualismus und der Gewaltlosigkeit zum Ausdruck gebracht. Auch eine stark ausgeprägte Sehnsucht nach Harmonie, Ruhe, Stille und Innerlichkeit wird deutlich. Am Ende seiner Textinterpretation kommt Rauschner zu dem Schluss, dass die Szene offensichtlich in der Lage ist, die Schattenseiten des Lebens konstruktiv zu verarbeiten.
Nach seinem Ausflug in die Welt der Lyrik setzt sich der Autor kritisch mit der Todes-Verdrängungsthese auseinander. Diese These begreift die Gothic-Bewegung als einen Protest gegen die in unserer westlichen Gesellschaft angeblich stattfindende Todesverdrängung. In der Forschung wird diese These recht häufig verwendet, um das Gothic-Phänomen erklären zu können. Jedoch gesteht Rauschner dieser These nur eine sehr begrenzte Überzeugungskraft zu.
Differenzierte Beurteilung der Todes-Verdrängungsthese
Laut Rauschner findet die Todesverdrängung zwar statt, allerdings geht er davon aus, dass diese Verdrängung nur zum Teil erfolgreich ist. In diesem Kontext weist der Autor darauf hin, dass der Tod in unserer westlichen Gesellschaft sogar recht häufig thematisiert wird – zumeist jedoch in abstrakter, sublimierter oder simulierter Form. Hierbei spielen insbesondere die Medien eine wichtige Rolle. Bei seiner Darstellung dieses merkwürdigen Umgangs unserer Gesellschaft mit dem Tod erinnert der Autor auch an die Wanderausstellung „Körperwelten“ von Gunther von Hagens. Aufgrund ihrer eigenartigen Zurschaustellung menschlicher Leichen sorgte diese Ausstellung für erregte Diskussionen bezüglich der Bedeutung des Todes in unserer Gesellschaft.
Insbesondere durch seine Präsentation der Theorien Georges Batailles entwickelt Rauschner Interpretationsansätze, durch die die Todesfaszination der Gothic-Szene verständlicher wird. In Anlehnung an Bataille legt Rauschner dar, dass der Mensch von der Sehnsucht erfüllt ist, seine Trennung von der ihn umgebenden Umwelt zu überwinden. Nur weil der Mensch über die Fähigkeit zur Reflexion verfügt, ist es ihm möglich, diesen Trennungsschmerz wahrzunehmen, sich also als ein gespaltenes Wesen zu empfinden.
Glückserlebnisse durch Grenzerfahrungen?
Den gewünschten Zustand eines Einheitserlebnisses mit der Umwelt kann der Mensch angeblich erreichen, indem er eine Auflösung seines (gespaltenen) Ichs durch Grenzerfahrungen vollbringt. Diese Grenzerfahrungen können etwa durch Todesnähe, intensive Liebeserlebnisse oder andere Erlebnisse des Rausches herbeigeführt werden. Laut Bataille ist jedes wahre Liebeserlebnis auch ein Todeserlebnis, weil ja ein wirklich liebender Mensch bereit dazu ist, sein Leben für seine Liebe zu opfern – oder zumindest zu riskieren. Tatsächlich geht Bataille grundsätzlich davon aus, dass die ersehnten Einheitserlebnisse dadurch entstehen, dass sie im Bannkreis des Todes stattfinden. Entsprechend dieser Theorie gewinnt das Leben also seinen Wert durch seine Nähe zum Tod bzw. durch das Bewusstsein des Todes.
In einer Zwischenbilanz schlägt der Autor eine Brücke von Batailles Theorie des Todes zur angeblich ganz spezifischen Melancholie-Erfahrung der Gothic-Anhänger. Wobei man diese Melancholie-Erfahrung auch als Grenzerfahrung im oben genannten Sinn begreifen muss. Mit den folgenden Worten bringt Rauschner die beiden zentralen Begriffe seiner Studie – Tod und Melancholie – in einen Zusammenhang: „Mit Bataille lässt sich die These erhärten, dass es sich bei der Bedeutung und Funktion des Todes im Kontext der Gothic-Szene nicht nur um eine bloße und allgemeine Faszination handelt, die sich etwa durch theoretisches Interesse (im Sinne von Literatur, Kunst, Medien) zeigt. Gothic – so meine Vermutung – thematisiert zwar den Tod auf vielschichtige Art und Weise (…), aber es geht darüber hinaus um weit mehr als das. Die Beschäftigung mit dem Tod – so meine These – ermöglicht den Akteuren der Gothic-Szene eine bestimmte Art von subjektiver Erfahrung, die wiederum mit dem ganz bestimmten und einzigartigen Erleben einer emotionalen Gestimmtheit einhergeht. Diese emotionale Gestimmtheit kann meines Erachtens als ‚Melancholie‘ bzw. ‚melancholisch‘ bezeichnet werden.“
Grundverschieden: Melancholie und Depression
Im weiteren Verlauf seiner Studie leistet Rauschner eine überzeugende semantische Trennung der Begriffe Melancholie und Depression. Dabei zeichnet er ein positives Bild der Melancholie, da diese seines Erachtens zu einem intensiveren und bewussterem Leben beiträgt. Hingegen wird der Zustand der Depression als eine äußerst beängstigende Krankheit beschrieben, bei der häufig Suizidalität als ein Symptom auftritt.
Bei Rauschners Beschäftigung mit dem Krankheitsbild der Depression zeigt sich auch, dass es eine haltlose Behauptung ist, wenn in der Forschung bisweilen von einem gehäuften Auftreten dieser Erkrankung bei Gothic-Anhängern ausgegangen wird. Tatsächlich liegen bislang keine empirischen Daten vor, mit der man diese Behauptung wirklich beweisen könnte.
Den Typus des Melancholikers beschreibt Rauschner als einen sehr skeptisch gestimmten Zeitgenossen. Seine skeptische Haltung befähigt den Melancholiker angeblich auch dazu, die gesellschaftlichen Zustände zu hinterfragen. Aufgrund seiner Nachdenklichkeit und seiner Neigung zur Innerlichkeit soll der Melancholiker dazu in der Lage sein, den Manipulierungsversuchen von Ideologien zu widerstehen.
Gesellschaftskritisches Glücksverständnis
Insbesondere gerät bei Rauschners Ausführungen die Ideologie des Kapitalismus in den Blick, die der Melancholiker als ein verlogenes Glücksversprechen zu enttarnen weiß. Im Gegensatz zum eindimensionalen Glücksversprechen des Kapitalismus (Anhäufung materieller Dinge) verfügt der Melancholiker angeblich über ein mehrdimensionales Glücksverständnis, wodurch dieser Typus eine besondere Lebensqualität gewinnen kann: „Wahres Glück hingegen bedeutet, die Polaritäten des Lebens akzeptieren zu können, den Wechsel zwischen positiven und negativen Aspekten des Seins bewusst zu erleben und zu sehen, dass Traurigkeit und Melancholie wertvolle Facetten des Lebens darstellen, dass man an ihnen wachsen, sich als Mensch an ihnen bilden kann.“
Am Ende seiner Studie präsentiert der Autor eine regelrechte Lobeshymne auf die Gothic-Szene: „Vor dem Hintergrund ihrer ästhetischen Ambitionen erscheinen Gothics rückblickend als äußerst kompetente und poetische Lebenskünstler, die sich lesender oder schreibender Weise mit grundlegenden Fragen der Existenz beschäftigen. Die thematische Nähe zu den Abgründen des Seins, so meine abschließende These, führt nicht automatisch zu einem Absturz, sondern dient vielmehr einer intensiveren Lebenserfahrung.“
Ein lesenswertes Buch
Rauschners Dissertation ist sehr lesenswert. Die von ihm entwickelten Interpretationsansätze für ein besseres Verständnis der Gothic-Szene können zumeist überzeugen. Oftmals sind seine Ausführungen sogar in hohem Maße erkenntnisfördernd. Das Buch beschäftigt sich auf spannende Weise mit den großen Fragen der menschlichen Existenz (Tod? Vergänglichkeit? Schmerz? usw.). Dass diese Fragen zentrale Triebfedern des Gothic-Phänomens sind, wird eindrucksvoll veranschaulicht.
Der Autor präsentiert sehr viele Denkansätze. Diese stammen zum Teil aus unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Unter anderem werden folgende Fachbereiche berücksichtigt: Anthropologie, Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Soziologie. Trotz der hohen Menge und der besonderen Vielfalt der dargestellten Denkfiguren agiert der Autor stets souverän bei der Bearbeitung seines interessanten Themas.
In der Studie spielt die Psychoanalyse Sigmund Freuds eine große Rolle. Gleiches gilt für das Werk Georges Batailles. Zudem werden Überlegungen von Slavoj Zizek und Jaques Lacan integriert. Die Existenzphilosophie Albert Camus‘ findet in einem wichtigen Aspekt Beachtung: Im Bild des steinrollenden und dabei glücklichen Sisyphos zur Erklärung des Sinns des menschlichen Daseins.
Noch etwas Kritisches zum Abschluss: Ein wenig irritiert hat mich an der Studie, dass die Gothic-Szene für meine Begriffe mitunter etwas zu positiv dargestellt wird. Aber vielleicht sehe ich diesen Punkt zu skeptisch bzw. zu melancholisch . (stefan)
Infos des Verlag Dr. Kovac zum Buch: www.verlagdrkovac.de/3-8300-7135-3.htm