EMPFEHLUNG, REVIEW

CHRIS :: I contain multitudes – Ein persönlicher Rückblick auf 2020

2020 … was für ein seltsames Jahr.
Über Covid 19 und die Auswirkungen auf das Musikbusiness möchte ich aber nicht schreiben, denn das haben wir sicherlich alle in den letzten Monaten verfolgt und für mich ist das Thema so vielschichtig, dass ich Euch nur unnötigerweise ein Ohr abkauen würde und außerdem bin ich auch kein Experte – davon gibt es ja nun wirklich genug in diesem Land.

Mein persönliches Jahr war nicht minder strange.
2005 hatte ich die Chance bekommen, für das Amboss-Mag zu schreiben und die folgenden 13 Jahre waren einfach ein Rausch!
Bereits seit 2018 deutete sich ein Wandel an, gegen den ich mich zuerst heftig gewehrt habe: Die Verschiebung des Fokus‘. Andere Aufgaben schoben sich in den Vordergrund und die Zeit wurde immer knapper; so knapp, dass ich irgendwann einsehen musste, dass ich zwei zeitintensive Hobbys nicht miteinander vereinen kann, weil ich keinem von beiden die notwendige Aufmerksamkeit zukommen lassen konnte, die es braucht, um es richtig zu machen. In diesem Jahr hat es zweifellos seinen Höhepunkt erreicht. Ich weiß, dass Ihr mich vermisst … ich Euch nämlich auch.

Aber um auch ganz ehrlich zu sein: Nach ich weiß nicht wie viel hunderten (tausenden?) Rezensionen und Berichten über die Jahre, fühlt es sich manchmal so an, als seien alle Worte bereits benutzt, ausgenutzt, ausgesaugt. Aber vielleicht bin auch ich nur etwas ausgelaugt.
Aber ein großer Vorteil war für mich persönlich auch, dass ich mich wieder intensiver mit meiner (dennoch ständig wachsenden) Plattensammlung beschäftigt habe, was dazu führte, dass ich bewusst meine (alte und neue) Lieblingsmusik gefeiert habe, ohne im Hinterkopf schon Sätze, Phrasen und Worte für die Rezensionen speichern zu müssen.

Nein, das ist jetzt kein Abgesang! Kein Abschied! Music was my first love and it will be my last … aber auch das ist ein guter Grund für mich, seltener, aber dafür mit einer Extraportion Leidenschaft Rezensionen zu schreiben.
Einmal Ambossianer, immer Ambossianer! Und solange man mir meinen WordPress-Account nicht sperrt, werde ich immer wieder aus der Versenkung auftauchen. Nehmt es als Versprechen oder Drohung.

Aber Ihr seid nicht hier, um meiner Lebensgeschichte zu lauschen, sondern wegen der Musik. Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Jahresrückblick gestalten soll und – wie Ihr bereits gemerkt habt – habe ich mich für eine ganz persönliche Variante entschieden. Und daher präsentiere ich Euch meine drei ganz persönlichen Lieblingsalben des Jahres 2020. Es gibt keine Reihenfolge, denn ich weiß, dass ich sie auch in 30 Jahren – sofern ich dann nicht schon tot bin – immer wieder hören werde. Und irgendwie gehören die Alben, so unterschiedlich sie auch sind, zusammen.

Das erste Album hatte ich seinerzeit im Amboss-Mag besprochen und ist somit ein alter bekannter: WALK THROUGH FIRE mit „Vår Avgrund“ (Wolves and Vibrancy Records).

Ich zitiere mich mal selbst: „Die Musik … sie ist unglaublich packend, fordernd und WALK THROUGH FIRE liefern mit jedem einzelnen der sieben Songs ein Manifest der Verzweiflung ab. Nicht der Trauer, der Melancholie. Nein, ihre Musik ist die vertonte Verzweiflung, die man im Herzen zu tragen verpflichtet wurde und die allumfassend ist. […] Zwischen all der tongewordenen Lava, den Soundbergen und Klangtälern, sind es immer noch verdammt gute Songs; vielleicht nicht unbedingt im klassischsten aller Sinne, aber wer diese Musik erkennt und versteht, weiß, was ich meine.“
Bereits damals wusste ich, dass es nicht möglich sein würde, dieses Album vom Thron zu stoßen … Das vollständige Review findet Ihr HIER.

A million thanks to WALK THROUGH FIRE for this catharsis.

Das zweite Album des Jahres, welches mich auf ewig begleiten wird, ist „A Thousand Scars“ von ERIC CLAYTON und es ist nicht übertrieben, wenn ich es musikalisch als komplettes Gegenteil zu „Vår Avgrund“ bezeichne. Yin und Yang. Gemeinsam haben die Alben durchaus negative Gedanken und Erlebnisse, denn seine thousand scars trägt niemand davon, weil es ihm gut geht und die Sonne aus dem Allerwertesten scheint. Aber ERIC CLAYTON und seine grandiose Band nehmen Trauer, Verzweiflung und Angst und kleiden es in ein akustisches Gewand von solch melancholischer Schönheit, der man sich nicht entziehen kann.

Musikalisch betrachte ich das Album immer zweigeteilt. Es gibt die rockigen Songs, die auch ohne weiteres von FISH oder DAVID BOWIE und manchmal auch im Ansatz von PETER GABRIEL stammen könnten. „Revelation mine“, „Initiated“, „The Cages“, „Lacerations“, „New Man“ sind Songs, die einfach großartig funktionieren und man hört, dass „THE NINE“, also die Musiker hinter der Stimme, einfach nur großartig sind und den Songs immer das gewisse Etwas mit auf den Weg geben.

Dann haben wir die Songs, in denen die Melancholie im Vordergrund steht und die selbst FISH oder DAVID BOWIE höchstens an ihren allerbesten Tagen hinbekommen haben.
Bei den Songs, in denen vorwiegend das Klavier und Erics Stimme zu hören sind, sind sensationell gut. „The Greatest of These“ zum Beispiel … hach. Es ist manchmal wichtig, dass man Lieder über Hoffnung hört und vielleicht ein Stückchen davon mitnimmt, wenn die Nadel sich vom Vinyl hebt, oder? Klingt cheesy? Der Mensch braucht im grauen Sumpf des Lebens nun mal ab und zu ein wenig Licht und Liebe.
Aber auch „The Space between us“, „A Thousand Scars“ oder „A Man’s Heart“ sind große Werke der melancholischen Rockmusik, aber alle werden gekrönt von dem besten Song des Album: „Chasing Monsters“. Wer nach dem Genuss dieses Songs noch daran zweifelt, dass Eric Clayton einer der großartigsten Sänger des Rockmusikzirkus‘ ist, dem kann ich nicht helfen. Mir lässt sein Gesang regelmäßig eine Gänsehaut über den Rücken laufen, denn ich spüre, dass der Text aus der Seele kommt und ich kann ihn nur allzu gut verstehen. Chasing Monsters … it never ends. It only begins.

Zusammen mit einer tollen Produktion, für die Devon Graves zuständig war, großartigen Songs, einer famosen Band und einem Sänger, der sein Innerstes auf der Zunge trägt, ist es mein Album des Jahres Nummero zwei.
Unfunny Fact: Das Album ist bei keinem Label erschienen, sondern wurde zum Teil durch Vorbestellungen / Crowdfunding finanziert, wodurch man einen Zugriff auf Demo-Songs erhalten hat und wodurch ich mir ein signiertes Doppelalbum gesichert habe.
Fun Fact: Endlich habe ich mich in meinem hohen Alter auch mal ausgiebig mit SAVIOUR MACHINE beschäftigt … es ist nie zu spät grandiose Musik zu entdecken.

A million thanks to ERIC CLAYTON AND THE NINE for this breathtakingly beautiful album!

Album Nummer drei dürfte eine Überraschung (für Euch) sein, denn der gute alte BOB DYLAN hat mit „Rough and Rowdy Ways“ ein Album veröffentlicht, welches mich von Anfang bis Ende zu begeistern weiß! Und wenn WALK THROUGH FIRE und ERIC CLAYTON das YIN / YANG sind, ist BOB DYLAN das „und“ dazwischen und somit das perfekte Bindeglied zwischen meinen anderen beiden Alben des Jahres, wenn er im Opener singt „I contain multitudes“, oder? Und zu dem einleitenden Text zu meiner Reflexion begleitet er mich mit einem „The times they are a-changin'“ und ich weiß, dass es der Lauf der Dinge ist.

His Bobness ist seit vielen, vielen Jahren einer meiner Lieblingskünstler, der nicht nur musikalisch zu mir spricht, sondern auch textlich, was ihn ebenfalls in meiner schrägen Welt mit WALK THROUGH FIRE und ERIC CLAYTON verbindet. Das hätten die drei Bands sich vermutlich auch nicht träumen lassen.

„Rough and Rowdy Ways“ beinhaltet 10 Songs und mit Ausnahme von „Key West (Philosopher Pirate)“, mit dem ich einfach nicht warm werde, wohl neun der besten Songs, die er in seiner unglaublichen Karriere jemals aufgenommen hat. Textlich jagt eine Offenbarung die Nächste und musikalisch … ja, was soll man da sagen? Der Band zu lauschen, mit der er zum Teil schon seit Ewigkeiten zusammenspielt, ist einfach ein Genuss. Da sitzt jeder Ton, sie sind verspielt, bringen dich mit einem furztrockenen Blues zum Grooven oder mit melancholischen Stücken zum in den Whisky weinen. Anspieltipps gibt es hier nicht, denn jeder Song ist ein Winner.

Und zum Schluss stelle ich noch eine gewagte These auf:
Wenn es im Doom Metal ein von mir geliebtes Trademark ist, Riffs so lange zu wiederholen, bis man aufgrund der Monotonie wahnsinnig wird oder endlich eine Katharsis einsetzt, dann hat The Bob mit „Murder most foul“ wohl nicht weniger als seinen ersten Doom Song geschrieben, denn der Songs ist mit knapp 17 Minuten ein ausschweifendes Monster und bei den ersten drei, vier Durchgängen hat mich die Monotonie gekillt, aber je tiefer man sich hineinhört, umso mehr Details offenbaren sich und man genießt schlussendlich das Stück wie einen Film, den er exklusiv für Euer Kopfkino geschrieben hat.

Thanks to Mr. DYLAN for giving my soul a home and inspiration.

That’s it. Das ist die heilige Dreifaltigkeit des Jahres für mich.
Verzweiflung – Hoffnung – Lyrik.

Ich danke Euch für Eure Zeit und Treue zum Amboss-Mag, denn eines ist sicher: Die Bagaluten, die sich unter diesem Dach versammelt haben, sind die leidenschaftlichsten Liebhaber der unterschiedlichsten Musik, die ich kenne.

Bleibt gesund, hört gute Musik, kauft Vinyl, lest mal wieder ein Buch und natürlich das Amboss-Mag! (chris)