REVIEW

(chris) „Manifest zur Meinungsfreiheit“ (Spoken Word)

Ab und zu schreiben wir mal Reviews, die unsere Leser nicht so erbaulich finden und es entbrennt eine Diskussion, in der Seitens der Musiker oder Fans reine Objektivität gefordert, uns aber subjektiv die Qualifikation zum Schreiben abgesprochen wird. Die Journalisten müssen sich aber versehentlich als Menschen outen, die Gefühle und Geschmack haben. Oder vielleicht auch nicht.
Dieser Text bezieht sich nicht direkt auf den regen Austausch zum neuen KRANKHEIT-Album und ich will auch nicht als Retter meinen beiden Kollegen Hendrik und Bastian beispringen, das haben die beiden nämlich nicht nötig. Da auch ich bereits schon Opfer einiger Diffamierungen wurde, schlummert die Idee zu solch einem Manifest zum Thema Meinungsfreiheit schon lange in meinem Kopf und in meiner Schublade. Viel Spaß beim Lesen!

„Boah, sind die Scheiße!“
Bevor wir abgewatscht werden, weil wir etwas schlecht finden und es mal unverblümt sagen, denkt mal nach, ob ihr noch nie einen Song, eine Platte von irgendeiner Band gehört habt, bei dem ihr zu eurem Kumpel gesagt habt:
„Boah, sind die scheiße!“? Habt ihr noch nie über irgendwen oder irgendwas gelästert, weil ihr ihn/sie/es kacke fandet? Ich schon. Manchmal hören oder lesen das dann diejenigen, die dafür verantwortlich sind oder sich verantwortlich fühlen und die Heulerei geht los. Aber ich glaube dennoch ganz heimlich, still und leise, dass wir alle gleich sind und ständig Sachen doof finden, ohne uns bewusst zu sein (oder sein zu müssen), wie viel Zeit und Arbeit derjenige welche in das Ergebnis gesteckt hat.

Aber Erstens ist es nicht in Bezug auf deine Persönlichkeit gemeint. Wir können trotzdem ein Bierchen zusammen trinken und gucken, ob wir gemeinsam was zu quatschen haben. Ich habe Freunde, die dem falschen Fußballverein huldigen oder den ganzen Tag Ballermann-Mucke hören und das rote Pferd bespringen…na und? Solange es noch andere Gemeinsamkeiten gibt, ist doch alles prima.
Dem Individuum (sprich der Künstler/Journalist/Mensch) hat in jedem Fall mit Respekt begegnet zu werden, ob derjenige sich dieses Vorschusses anschließend als würdig erweist, ist eine andere Geschichte. Das betrifft aber unser ganzes Leben und nicht nur die fruchtbare Beziehung zwischen Journalisten und Musikern.

Zweitens: glaubt ihr allen Ernstes, dass eure Musik JEDEM gefällt? DAS TUT SIE NICHT! Würde sie jedem gefallen, wärt ihr Nummero Uno in den Charts! Und schweinereich! Und viel zu groß, als dass ihr dem Amboss dann noch Promos schickt! Höchstwahrscheinlich seid ihr das aber nicht! Und sogar die Nummer 1 gefällt nicht jedem. DIE TOTEN HOSEN, SILBERMOND, TOKIO HOTEL etc. finden auch nicht alle von uns gut und ich wette, dass die wenigsten sich zurückhalten, wenn es darum geht, diese Mädchenbands an die Wand zu klatschen. Es ist also nicht schlimm! Es ist eine Lektion, die man im Leben lernen sollte, dann nimmt man sich weniger wichtig und lernt auch andere Meinungen zu respektieren.
Meine Schreibe hat zum Beispiel sicherlich einige Sympathisanten (und damit meine ich nicht meine nächsten Verwandten und Freunde, die glauben sowieso, dass ich der nächste Hemingway bin). Es gibt aber auch Legionen von Leuten, denen ich, meine Persönlichkeit, meine Schreibe und vielleicht sogar der Amboss völlig Wurst ist. Das wäre definitiv unschön, aber ihr müsst ja wissen, weswegen ihr ins Fegefeuer kommt! Der Amboss rettet! Halleluja!

„Subjektivität“
Reviews MÜSSEN subjektiv sein! Sie basieren einzig und allein auf den Erfahrungen und dem Musikgeschmack des jeweiligen Schreibers! Komplett individuell. Gib 10 Leute eine Platte und es gibt 10 Lieblingstracks, 10 Referenzbands usw. Und wenn Musik eine heftige Reaktion auslöst, seid doch froh. OK, es umströmt die Band und das Review dann nicht unbedingt die Aura des Ruhmes, wenn man statt der ultimativen Lobhudelei einen Verriss bekommt, aber so fucking what? In der heutigen Zeit der Gleichschaltung und des Massengeschmacks wäre es mir lieber, ich löse bei irgendwem ’n Kotzreiz aus, als wenn ich allen auf der Welt egal bin. Bin ich nämlich allen Menschen egal (= objektives Review), existiere ich philosophisch betrachtet dann überhaupt?
Während wir die Musik kritisieren, wird uns sehr gerne Inkompetenz vorgeworfen. Das finde ich nebenbei bemerkt, persönlicher und subjektiver, als ein künstlerisches Produkt zu kritisieren. Aber wir sind uns der Möglichkeit bewusst, kritisiert zu werden und wir fahren ja auch Vollgas mit offenem Visier, d.h. unterzeichnen unsere Artikel namentlich, unsere email ist frei zugänglich und sind jederzeit für einen Schnack zu haben.


„Objektivität (inkl. Beispiel) vs. Unterhaltung“

Immer wieder fordert man von Schreibern „objektive“ Reviews.
Leider ist man als Journalist und/oder Redakteur nicht immer in der Lage unterhaltsame Reviews zu schreiben und somit entstehen leider Gottes viel zu viele objektive Reviews. Ihr alle kennt sie aus den großen Magazinen Rock Hard, Sonic Seducer, Orkus oder von den einschlägigen Onlinemagazinen.

Sie lauten dann ungefähr so:
„[BANDNAME] spielt [GENRE EINFÜGEN] der Sorte [REFERENZBANDS NENNEN]. Leider kommt man nicht an die Qualität der genannten Bands ran, aber Genrefans können ja mal reinhören.“
Wem das lieber ist, als dass ein unterhaltsamer Verriss, bitte schön. Aber nach dem zehnten objektiven Review, die ja u.a. dadurch entstehen, dass die Musik nichts weltbewegendes im Hörer auslöst und nicht besonders schlecht oder besonders gut ist, habe ich auch keine Lust mehr. Dann kommen Platten, die dich richtig begeistern oder ankotzen genau richtig und man kann seiner widerwärtigen Natur freien Lauf lassen und seine Emotionen zügellos in die Tastatur peitschen.

Wenn man Glück hat, ist das Review dann auch ein Stück Unterhaltung. Das muss ja auch nicht stimmen, aber wer mir die ultimative Wahrheit schickt, bekommt eine Promo-CD des nächsten Komplettverrisses von mir geschenkt.
Andernfalls sind viele Reviews reine Infos, in denen man die Eckdaten einer Veröffentlichung weiterreicht, eventuell mit einem persönlichen Geschmäckle, dann hat man aus durchschnittlichen Platten und Reviews schon das Optimum rausgeholt. Damit muss ich mich aber selbst kritisieren, denn leider bin ich nicht in der Lage zu jeder der durchschnittlich 300 CDs pro Jahr einen affengeilen Roman zu schreiben, der alle begeistert und den man sich abends vorm Schlafen noch mal reinzieht.

 

„Phantasie vs. Sachlichkeit“
Phantasievoll und blumig dürfen wir alles toll finden, über nett gemeinte Übertreibungen regt sich niemand auf. Im Gegenteil, DAS ist Begeisterung!
Aber was wir komplett beschissen finden (und das ist, wenn man ehrlich ist, erstaunlich wenig bei uns, da die meisten Alben besten- oder schlechtestenfalls Durchschnitt sind) müssen wir objektiv berichten? Ich glaube nicht. Wir sind nicht dem Menschen zum Wohlgefallen in dem Business und kehren Stinker (NATÜRLICH REIN SUBJEKTIV) unter den Teppich. Meinungsfreiheit ist das Zauberwort. Ansonsten gäbe es wohl nicht so viele Texte, in denen man Leute, Religionen oder sonstwas an den Pranger stellt. „Ich töte meinen Nachbarn und verprügel seine Leiche“ von DIE KASSIERER sei da nur mal als pädagogisch wertvolles Musterbeispiel genannt.


„Abschied“
Liebe Bands, Fans, Labels, Vertriebe, Eltern, Journalisten, Redakteure und Wünschelrutengänger: alles ist relativ. Bitte, lasst euch in Zukunft nicht davon abhalten, zu stänkern, wenn wir eurer (Lieblings-)Band nicht genug warme Worte schenken oder ihr mal mit harschen Worten an die Karre fahren. Aber vergesst eines nicht: wir machen unseren Nebenjob aus dem gleichen Grund wie alle anderen auch: aus Liebe zur Musik. Was scheiße ist, wird als scheiße bezeichnet. Ach ja, rein subjektiv, natürlich. Und ich werde mir die künstlerische Freiheit nicht nehmen lassen, mich auszutoben, wenn es mal sein muss, ob es den Betroffenen gefällt oder nicht.

Gerne darf der Artikel, der sicherlich (hoffentlich) polarisieren wird, als Diskussionsgrundlage benutzt werden und unsere Kommentarfunktion zum Glühen bringen, falls einer mal ein Lob loswerden will, darf er/sie sich auch austoben.
Aber immer beachten: dieser Artikel spiegelt MEINE Gedanken wider, nicht zwingend die Gedanken und die Einstellung meiner Kollegen!

Auch wenn das keine Kriegserklärung sein darf: ich setze mir jetzt meinen Stahlhelm auf, verbarrikadiere mich unter’m Schreibtisch und warte auf die Einschläge…

Dennoch wünsche ich euch nur das Beste!
(chris)