REVIEW

ARBEITSGRUPPE LOBOTOMIE „Unerhört“ (NDH/Satire/Electronic Metal)

ARBEITSGRUPPE LOBOTOMIE

„Unerhört“
(NDH/Satire/Electronic Metal)

Wertung: Gut

VÖ: 24.02.2023

Label: Legwespenpenprodukte

Webseite: Facebook / Bandcamp

Das zweite Album der Münchener Formation ARBEITSGRUPPE LOBOTOMIE ist erneut ein Werk, welches die Kritiker jeder Couleur erfreuen dürfte, bietet es doch viele Ansatzpunkte, bei denen sich (natürlich neben den eh bekannten Gegnern) sowohl die „Woke“ Community, wie auch politisch Korrekte (wobei der Unterschied eher marginal ist) auf den Schlips getreten fühlen dürften. Apropos Schlips, dieses letzte Männlichkeitssymbol der Macht ist des Öfteren Angriffspunkt, also nicht genau der Oberhemd-Schwanz-Ersatz, sondern deren Vertreter. Harsche Kritik, vorhalten des Spiegels oder antikapitalistische Stellungnahmen werden mit Dark Electro und brachialen Saiten verwoben und zu guter Letzt in eingängige Hooklines und betörende Melodielinien eingebettet. Die Texte werden mal vom durchdringenden, sonoren Gesang von Bakunin Eisner, mal von hellen weiblichen Stimmen dargeboten.

Bereits der dramatische Opener nach einem einleitenden, von Motorsägen-Geheul samt zwitscherndem Gefieder begleiteten Intro, liefert gleich wohl für viele den ersten Tabubruch. Denn „Euthanasie“ beschäftigt sich nicht mit dem sanften Tod des Menschen, sondern beschreibt die menschengemachte Vernichtung von Wäldern. Ein wenig erinnert der Text an Alexandra’s „Mein Freund der Baum“. Die AGL hat eines ganz sicherlich verinnerlicht, um auf Missstände aufmerksam zu machen, braucht es die Provokation, warum nur den Finger in die Wunde legen, wenn man auch einfach die unangespitzte Faust hinein rammen kann? Provokative Stilmittel in Bild, Schrift und Ton sorgen für ungemütliche Denkanstöße. Und so sollte man die AGL nicht allein auf die Musik/den Text beschränken. Dazu gehören auch die Videos und ein in sozialen Medien dargebotenes klares Statement. Das überzogen durchgeknallte „Spalter“ Musikvideo handelt von Medien, Manipulation und Mord und war die erste Vorabsingle des zweiten Albums.

Eine weitere Vorab-Single war das, von harten Saiten und verwegenen Drum-Kreationen dargebotene „S.t.a.s.i“, welches zunächst wie eine Cover-Version von Sportfreundes Stillers Fußballlied mit anderen Jahreszahlen klingt. Ein wenig überraschend ist hier die Jahreszahl 34, welche im Kontext zu 68 und 2020 gesetzt wird, weil man eher mit 1933 rechnete. „Abgründe der Lust“ zieht Parallelen zwischen Sklavenarbeit des Naziregimes und Sklavenarbeit heutiger Zeit, oder woher kommen die billigen Konsumprodukte, welche kaum den Kauftag überleben? Das folgende „Tanz“ schlägt in die gleiche Kerbe und beherbergt in seinem Inneren die Kritik am System. Neben Vergleichen mit früher ist hier eher die Person angesprochen, die sich gegen ein Ausbeuter-System wehrt und dafür diffamiert wird. Nebenbei eine Aufforderung für alle, gegen diese Ausbeutung zu kämpfen.

Das Ganze gibt es in „Du“ auch als ganz gezielte persönliche Ansprache. Klar unterteilt in „du solltest“ und in „du solltest nicht“. Auf dem Sofa verändert man nicht die Welt, auch wenn die Musik mich gerade auf dem Sofa zum Nachdenken anregt und ich überlege wie ich das Paket mit dieser Schallplatte verpacke um es zielgenau an Lindner und Merz zu versenden. Denn plakativ gegen Rechtsaußen zu wettern, ist nicht unbedingt Hauptaufgabe dieser Arbeitsgruppe, eher ist es, die Mitte der Gesellschaft zu sensibilisieren für Themen, welche die Parteien der Mitte zwar auch auf ihrer Agenda haben, aber wohl eher als Schutzschild gegen die eigene Dummheit. Das latent positiv ausgerichtete „Hoffnung“ und der darauf typischen fußenden Aussage, dass diese zuletzt stirbt, wird mit der ebenso typischen Aussage eines depressiven Realisten („aber sie stirbt“) zum Ende hin konterkariert. Eine sich langsam anschleichende Melancholie wohnt dem Schlussakt „ich kann nichts dafür“ inne.

Fazit: Während auf dem Debüt eher ein Ereignis die Grundlage der Texte bot, ist es heuer eher ein Thema. So beschäftigt man sich auf „unerhört“ (Der Titel ist auch dezent mehrdeutig) mit der Vernichtung der Natur, dem Überwachungsstaat, der Ungleichheit, der Denunziation, der Spaltung der Gesellschaft und dem fehlenden Geschichtsbewusstsein. Bevor das Textblatt die Texte beherbergt, gibt es klares Statement zum Krieg und die erneute Verschlimmerung der Verteilungsverhältnisse. Es sei mal darauf hingewiesen, dass wir seit den 70ern wissen, dass unser Klima mehr über Nahtoderfahrungen berichten kann, als Reinhold Messner und das ungleiche Verteilung von Vermögen/Verdiensten (übrigens unabhängig von Mindestlohn oder Durchschnittslohn) einer Gesellschaft schadet. Musikalisch einzuordnen ist die Formation nicht so leicht, da ich eher die Texte und die Videos in den Vordergrund stelle. Ansonsten herrscht eine Atmosphäre, welche zwischen Härte, EBM, NDH, Metal und Synth Pop variiert. Geschickt ist es, die sinnhaften, zum Nachdenken oder googeln anregenden Texte in eine eingängige Form zu gießen und des Öfteren eine betörende Hookline zu integrieren. Natürlich laufen Vergleiche mit Welle:Erdball oder Rammstein nicht ganz fehl. Für mich ist es die modern-elektronisch-metallische Variante von „Floh de Cologne“, die in den 70ern mit dem genialen „Profitgeier“-Album klare politische Statements abgaben.

Für physische Haptiker: „Das neue Album der AGL kommt im schnieken 180g Vinyl mit einem MP3-Kot, damit du dir das Album im Internetz herunterholen kannst, um es auf dein pfiffiges schnurloses Telefon zu kopieren, sodass du auch die Klänge der AGL hören kannst, wenn du unterwegs bist“ (O-Ton AGL). (andreas)